Freitag, 16. Juli 2021

Nr. 36 vom 15.7.1971 oder Jungen die Ähnlichkeit mit Michael Schanze haben


So, ziemlich wenig los in der Sommerausgabe 1971 der Goldenen 20. Gerade mal 3 Re-Entries und null Neuzugänge. Vorne ziehen Butterfly, Chirpy, Hotlove, Brownsugar und Abraham ihre Kreise, wie immer. Hier der You-tube-Link.

Das gibt uns Gelegenheit, einmal ein wenig im Musikexpress herumzublättern. Ich wurde ja erst zehn Jahre später Leser, das heißt, wenn ich mir die 3,50 DM (1981) für ein Heft leisten konnte, was keinesfalls immer der Fall war. 3,50 DM waren ungefähr ein Drittel der Kosten einer italienischen LP-Pressung (9,90 DM) und immerhin ein Fünftel der Investion einer guten deutschen Pressung (17,90 DM). Den Musikexpress allerdings brauchte ich hingegen, um zu erfahren, was ich mir eigentlich hätte kaufen sollen oder müssen und nicht ausschließlich auf das Urteil meiner Freunde zurückzugreifen, das genau so zweifelhaft war wie meines. Wenn ich also den Musikexpress kaufte, hatte ich kein Geld mehr für die dort besprochenen Platten, und wenn ich das Geld sparte, wußte ich nicht, was ich kaufen sollte. Das erinnert ein wenig an die bekannte Geschichte über das arme, aber liebevolle Paar, als er seine Taschenuhr versetzt, um ihr einen schönen Kamm zu kaufen, und sie ihr langes Haar verkauft, um ihm eine Uhrenkette zu schenken.

Musik Express vom Juli 1971

Aber wir sind ja 10 Jahre früher, im Jahr 1971 (1,60 DM für ein Exemplar). Der damalige Musikexpress war noch etwas anders drauf. Eigentlich ist der Muziekexpress eine holländische Zeitschrift, was in den ersten Jahren dazu führte, dass viele Anzeigen auf holländisch für holländische Produkte warben (Mi-lock socks: modern und modieus).

Ansonsten glaubt man erst an eine Schülerzeitung: ausgeschnittene Girlanden-Reprovorlagen, Erlebnistexte, apologetisches Fantum und eine verblüffende große Zahl von Postern. Man hat fast den Eindruck, sich in eine BRAVO verlaufen zu haben. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass damals noch die Welt so jung war (wie wir kürzlich erst beschrieben haben): Nerds und Fans lagen noch einträchtig und ungeschieden beieinander, bevor sie durch ein Bravo-Musikexpress-Schisma in Voll-Checker-Attitüde und naives Dufte-Finden geteilt wurden. Musik ist natürlich im ME wichtig, aber es gibt gerade mal 9 LP-Rezensionen (unter anderem wird LA Woman ganz ok gefunden), dafür aber eine kitschige Kurzgeschichte. 

Und es gibt die Doppelseite mit Kleinanzeigen "ME-TOPPERS". Die Hälfte der privaten Inserate bezieht sich auf den An- und Verkauf von Tonträgern. Die andere Hälfte ist deutlich interessanter: hier möchte man Kontakte knüpfen. Wie es so der Lauf der Welt ist, suchen die Mädchen die Jungs und die Jungs die Mädchen. Was bemerkenswert ist: alle Mädchen suchen langhaarige Jungen. Alle. Die Jungs wiederum behaupten, langhaarig zu sein, wohl damit sie nicht in Kurzhaarverdacht bei potenziellen Brieffreundinnen geraten. Und ja, so funktionierte es 1971: man schrieb sich Briefe. Übrigens sind die überwiegende Anzahl dieser Anbandelungsanzeigen mit Name und kompletter Adresse versehen. Hier zwei typische Beispiele:

Dieser und alle anderen Ausschnitte: Musik Express, 7/71-10/71

Abgesehen von der Langhaarigkeit möchte Frau-32-cm auch einen Typen, der "vergammelt" ist. Wir geben zu: die große Zeit der Vergammelten ist heute vorbei. Übrigens auch der Langhaarigen.



Heutige junge Damen schlagen ob der Musikauswahl  wohl die Hände über dem Kopf zusammen, was für eine grauenhafte Boomer-Mucke. Aber nein, ich muß mich korrigieren: heutigen jungen Damen wird "Led Zeppelin" so viel sagen wie unsereins der Minnesänger "Burkhart von Hohenfels" (Mitte 13. Jhdt)). Und Uriah Heep halten sie glatt für eine Figur aus Charles Dickens.

Die vollständigen Namen und Adressen bei diesem Zeitlupen-Tinder verführen natürlich dazu, einmal nachzugoogeln, was aus diesen Menschen so geworden ist. Gerade bei selteneren Nachnamen führt das auch recht oft zu Ergebnissen. Annette ist Steuerberaterin geworden. Margit arbeitet in einer Firma, die sich offenbar mit Plastinationen von Leichen beschäftigt. Ich glaube, das geht den allermeisten so, die damals vorwiegend Ten Years After und Emerson Lake & Palmer gehört haben.


Auch solche Reisebegleitungsaufrufe gibt es häufig. Hier als Bedingung, um mit den Damen durch Europa zu trampen: Lange Haare, klar, und  "evtl." Bart. Und Student. Und Pink Floyd, Ten Years After und Kraftwerk hören. Ja, ihre Töchter werden alles das übrigens auf ihren No-Go-Listen haben, wenn sie dann zwanzig, dreißig Jahre später durch Europa ryanairten.

Jungs probieren es übrigens auch. Man sieht bei folgender Anzeige förmlich vor sich, wie Günther, Herbert und Dietmar (so hießen junge Leute in dieser Zeit) an jedem Wort ihrer lustig-fluffigen Anzeige feilen.


"Wir sind nicht besonders nett", haha, wie witzig, und "unmusikalisch".  Übrigens halte ich es für nicht den allerbesten taktischen Schachzug, "fast immer knapp bei Kasse" zu sein. Möchte denn der "nette weibliche Anhang" seine Asbach-Cola selber bezahlen? Ich glaube nicht! Dietmar hat übrigens eine respektable Karriere in der Textilbranche hingelegt. Ein echter Womanizer, und wohl jetzt auch nicht mehr knapp bei Kasse. Über Günter und Herbert ist mir nichts bekannt. Weiter:



Das sind schlaue Mädchen. Erst einmal schreiben, und dann mal weitersehen. Immerhin mögen sie kein Creedence Clearwater, sondern so ziemlich alles, was man 1971 für Heavy Metal gehalten hat (wofür es noch kein Wort gab damals außer "Hard Rock").  Übrigens scheint es mir so zu sein, dass das Gammeln von 1971 zum Chillen von 2021 geworden ist. Margrit ist übrigens (wahrscheinlich) Redakteurin bei den Öffentlich-Rechtlichen. Bei diesen Mädchen ist alles glatt gelaufen, das ist glasklar.


Das ist mein Liebling. Die Damen haben klare, deutliche Vorstellungen. "Christel bevorzugt Jungen die Ähnlichkeit mit Michael Schanze haben" ist ein Satz von alttestamentarischer Wucht, glamouröser Großartigkeit und unschuldiger Finesse. Wahrscheinlich erreichte die Damen bald darauf ein Brief mit dem Beginn: "Ich heiße Jürgen und alle sagen, ich hätte große Ähnlichkeit mit Michael Schanze." Oder ich stelle mir vor, wie Christel mit einem Jungen auf dem Karnevalsfest der 8c zusammen Klammerblues zu Nights In White Satin tanzen, er ihr die Liebe gesteht, aber sie einfach sagt: "Helmut, du bist nett, aber du einfach siehst nicht aus wie Michael Schanze."




Neuer Versuch. Hm, "sehe nicht schlecht aus". Er hätte vielleicht schreiben können: "sehe gut aus". Seine Hobbies sind tanzen, diskutieren und Mode. Gammeln allerdings nicht, wie wir befremdet feststellen, aber immerhin hat er lange Haare. Eine gewisse Unentschlossenheit und ein vorsichtiges Abwägen merkt man seiner Zuschrift an. Was er geworden ist: Hochschulprofessor, Spezialgebiet Risikobewertung geworden. Merkt man irgendwie schon.

Man stößt übrigens beim Nachgoogeln dann auch auf Leichen, inklusive Nachruf. Der romantische Boy hat sein Girl gefunden, und auch Kinder gehabt, ist dann aber schwer und lange erkrankt, und 2017 gestorben.



 Und auch noch etwas Ekliges, zum Abschluß:

Der 22jährige "schräge Vogel" sucht ein "flügge gewordendes Girl ab 13", und zwar für Briefwechsel oder "mehr". Das war auch 1971 ein bißchen "schräg". Er legt dann auch noch sein Journalist-Sein mit umfangreicher Reisetätigkeit als Leimrute für die flüggen Girls aus.

Es wird ja nicht alles schlechter, sondern im Gegenteil sehr vieles sehr viel besser. Und unter anderem das Selbstbestimmungsrecht junger Mädchen und Frauen, welches man Anfang der Siebziger unter dem Label sexueller Freiheit großzügig ignorierte, auch und gerade in den damals sich verbreitenden Bildern. Bei Udo Jürgens waren es noch siebzehn Jahr, blondes Haar, so stand sie vor mir, aber dem Schrägvogel reichen 13 Jahr völlig. Aber lange Haare, weil er selbst welche hat, und Schnurrbart. 

Und was soll ich euch sagen: es gibt Schrägvogel noch immer. Das hat mich schier umgehauen. Er pflegt mehrere Webseiten, und er ist in den letzten Jahrzehnten nicht schlecht im Geschäft gewesen. Er ist heute noch genau so unangenehm und klebrig wie vor 50 Jahren. Ein unangenehmer Typ, wie man an jedem seiner Fotos sieht. Kackvogel. Schäm Dich!

Aber so möchte ich auch nicht aufhören. Einen noch. Eine Zuschrift aus Berlin:



Hm. Hartmut ist ohne Probleme auf Facebook zu finden. Und er hat mich jetzt wirklich gerührt. Hartmut ist klein (das schreibt er ja) und hat ein kugelrundes Gesicht. Auf einem Foto posiert er im blauen Sakko, gestreifter Krawatte und schwarzer Hose und einem Hut vor einem unordentlichen Büroregal. Sein Style ist so, was man früher einmal "unvorteilhaft" bezeichnete. Auf einem anderen Foto, im selben Keller, sitzt er in einem blaugestreiften Polo-Shirt  (das ist der Hartmut-Style) da und kneift die Augen zusammen, als würde ihn jemand mit Blitz fotografieren, obwohl man das nicht mehr macht. Er trägt eine silberne Schlüsselkette am Gürtel. Er hat mehrere kleine Hunde einer sehr seltenen Rasse, die aber alle wie ausgestopft aussehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er einen Kleingarten hat. Sonntags fährt er dann raus, angelt den Gartentorschlüssel an der silbernen Kette aus der Tasche, schließt auf, trägt den ausgestopften Hund in den Garten und zupft im Vorbeigehen etwas Unkraut ab. Das ist Hartmut, gegen alle Gewalttaten, und das Aussehen ist egal.


Dauerbrenner der Woche: Die Kackfrösche CCR sind endlich weg! Und jetzt Rose Garden!
Rakete der Woche: Ein verrückter Tag von Michael Holm
Liebling der Woche: I Did What I Did For Maria!