Freitag, 31. Juli 2020

Nr. 15 vom 1.8.1970 oder Deine Zauber binden wieder





So, und hier sind wie immer die Goldenen 20 auf youtube!


Noch immer halten Simon & Garfunkel drei Plätze in unseren Top 20, darunter auch die Nummer 1 mit dem unsäglichen El Condor Pasa. Aber von hinten kommt ein klassischer Supersommerhit angeschossen: In The Summertime von Mungo Jerry. Wir sind gespannt, wie es nächste Woche aussehen wird!


Auf Platz 8 – er wird noch deutlich steigen, ist eine sehr skurrile Angelegenheiten: Song Of Joy von Miguel Rios. Eines der urdeutschesten aller Lieder kommt sozusagen über Bande wieder zu uns zurück. Interessanterweise war es auch in Österreich und in der Schweiz die Nr. 1, während es in USA und UK nur so ein mittlerer Hit war. Allerdings wurden sieben Millionen Stück verkauft. Ich habe es mir jetzt noch einmal angehört – und ach, eigentlich macht es der Miguel doch gar nicht so schlecht! Leider ist sein Auftritt mit diesem Lied im Film „Das haut den stärksten Zwilling um“ (Peter Weck, Ilja Richter, Peggy March und alle anderen) nicht vorhanden, aber es gibt eine hübsche spanische Version, da heißt es dann Himno a la alegria. Dazu hier ein schöner Clip.

So ein bißchen ist Miguel Rios zwischen Joe Cocker und Freddy Quinn (Cocker von der Inbrunst, Quinn vom Gesicht). Und – so etwas macht mich ja wahnsinnig, sein Mikrofonkabel bleibt bei 4:07 am Jackenknopf hängen, ganz am Ende, und dann steht Rios da, beethovenergriffen, schillersüchtig, mit einem Kabel, das da vor seiner Jacke hängt. Ich mache mal einen Knoten in mein Mikrofonkabel, denn darüber werden wir noch einmal ausführlich reden müssen, über das Mikrofonkabel und was es für die Musik bedeutete in den Siebzigern.

Aber blicken wir zunächst einmal auf den Miguel, und was Miguel so singt. Schillers Original lautet bekanntlich:

Freude, schöner Götterfunken,
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligthum.
Deine Zauber binden wieder,
Was die Mode streng getheilt,
Alle Menschen werden Brüder,
Wo dein sanfter Flügel weilt.


Miguel macht daraus:

Come sing a song of joy
for peace shall come, my brother
Sing, sing a song of joy for men
shall love each other.
That day will dawn just as sure
as hearts that are pure,
Are hearts set free.
No man must stand alone
With outstretched hand before him.

Ok, das ist schon ziemlich freimütig übersetzt. Erstmal dachten sie natürlich, what-the-fuck is elysium? und machten daraus „peace“, denn Frieden geht ja immer. Desweiteren verläßt der Text das Original weitläuft. Wo sind denn eigentlich die Zauber? Und die Mode, die alles streng getheilt hat (immer schon meine Lieblingszeile!)? Nein, das ist schon ein bißchen Laberrhabarber.
Verantwortlich für den englischen Text ist übrigens ein gewisser Ross Parker, der einige große Hits zu Beginn des Zweiten Weltkriegs hatte: er schuf mit "We'll Meet Again" "There'll Always Be an England", "I'm In Love For The Last Time" einige berühmte Trost- und Durchhaltelieder.


Song of joy (Quelle: discogs/Polydor)

Es geht auch schlimm weiter: “Reach out and take them in yours with love that endures forevermore,  then sing a song of joy for love and understanding” Jaja, ist ja schon gut, wogegen Schiller ganz klar fomuliert hat: „Ja, wer auch nur eine Seele sein nennt auf dem Erdenrund, und wer’s nie gekonnt, der stehle weinend sich aus diesem Bund!“ Ich übersetze das mal ins heutige Deutsch: „Keine Follower, keine Likes, also hau ab!“ und das ist schon etwas ganz anderes als Arme ausstrecken und Liebe forevermore, mein lieber Herr Ross Parker!
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Aber jetzt hier mal ein kleiner Schnitt. Wenn jetzt jemand einmal auf das Original neugierig geworden ist: welche Einspielung ist zu empfehlen? Ich fürchte, es gibt keine Symphonie, die so oft und so oft schlecht aufgenommen wurde wie Beethovens Neunte. Und – wie oft in der Klassik – hört man oft das Aufnahmejahrzehnt sehr stark durch. So sind fast alle Aufnahmen aus den Siebzigern und Achtzigern (gerade bei Karajan!) viel zu staatstragend und stereoanlagenschrank.


Song of noch mehr joy (Quelle: discogs, Deutsche Grammophon)


Deutlich älter, viel schlanker und die wohl beste verfügbare Aufnahme sind die Berliner Philharmoniker mit Ferenc FricsayDie Aufnahme stammt von kurz vor Weihnachten 1957 und das schöne an ihr ist nicht nur ihre Dynamik, sondern das Geschehen ist schier hysterisch, atemlos, geprügelt und getrieben. Was für eine Achterbahn! Eine feine Ironie, dass das gerade ein Ferenc Fricsay, der sich als jüdischer Musiker während des Krieges in Budapest verstecken mußte, so unglaublich gut hinbekommt, ausgerechnet mit den Berliner Philharmonikern in der Hedwigs-Kathedrale am ehemaligen Opernplatz. Über Miguel Rios brauchen wir hier nicht zu reden. „Wir betreten feuertrunken“ heißt es im Originaltext und nicht „shall love each other“. Sehr großes Kungfu!



Song of überhaupt kein joy: Furtwängler in der Philharmonie, mit einigen prominenten Zuschauern (Quelle: NZZ, imago)


Aber. Es gibt noch eine andere Aufnahme. Berlin, 19.4.1942, Philharmonie Berlin, Vorabend des Führergeburtstages. Goebbels hält eine Rede. Hitler ist anwesend. Dann gibt es Beethovens Neunte mit den Berliner Philharmonikern und Furtwängler. Die Aufnahme hat eine grauenhaft schlechte Tonqualität, es hat damals ein privater Amateur auf sieben Decelith-Platten aus dem Rundfunk aufgenommen. 

Die ersten drei Sätze sind toll, und jetzt kommt die Ode an die Freude. Bei ungefähr 1:00:44 fangen sie dann auszurasten, unglaublich. Wahnsinnig schnell, laut und herausgebrüllt, aber an der Rosenspur-Stelle beginnen sie plötzlich zu tanzen. Joachim Kaiser sagte einmal – es sei gewiß geschmacklos, aber besser seien Furtwängler und die Berliner nun einmal nie gewesen als in diesen Jahren, als es auf Leben oder Tod ging. Es gibt eine Aufnahme von Bruckners 9. (sic!) von 1944, und zwar der langsame letzte Satz ist so unglaublich traurig, in der Gewißheit, alles verloren zu haben, alles ist zuende, und man hat das alles selbst gemacht und verursacht. Davon ist man hier – 8 Monate vor Stalingrad - noch weit entfernt. Wie sehr lassen sie es rocken zu 1:05:15, als sie die Freudestrophe wiederaufnehmen! Dann aber: Überm Sternenzelt muß ein lieber Vater wohnen ist so bescheiden, so demütig, aber dann 1:10:49 DER GANZEN WELT DER GANZEN WELT. Und im Gegensatz zu Fricsay, der die letzten Minuten versöhnlich ausrollen läßt – schließlich werden ja alle Menschen Brüder – hält Furtwängler die Spannung und den Wahnsinn bis zum Ende hin aufrecht. Die Aufnahme läßt einem ratlos zurück. Aber weiter war man vom „Song of Joy“ nie entfernt, niemals.


Ausschnitt aus meiner Jugend, damn life (eigenes Foto)


Das heißt, eine völlig kaputte Version hat dann 1982 John Cale gemacht, zu einem leiernden Klavier stottert der Ex-Velvet Underground einen völlig anderen Text herunter it's a pity, damn life. Tatsächlich habe ich als später Teenager (ich war 17) die Platte sofort nach Erscheinen gekauft und fand diese Version großartig. Damn Life, klar. Als (später) Teenager fährt man ja am besten damit, erst mal alles schrecklich zu finden. You're just not worth it, you're just not worth the pain singt Cale, und das selbst heute noch sehr eindrücklich. Damals hielt ich es für eine uneinholbare Wahrheit. In gewisser Weise ist Cale damit der Antipode zu Miguel Rios. 1970 war alles Song of Joy, 1982 war alles Damn life.

Wer recht behalten hat, war – Beethoven.




Rakete der Woche: A Song Of Joy von Miguel Rios
Veteran der Woche: Bridge Over Troubled Water mit 9 Wochen - werden sie die 10 schaffen?
Liebling der Woche: Kitsch vom tollen Barry Ryan



Freitag, 17. Juli 2020

Nr. 14 vom 15.7.1970 oder Die Beatles gingen zum Regenbogen




Und hier die aktuelle Hitparade auf Youtube!

Ich hatte es ja schon befürchtet: jetzt haben wir El Condor Pasa so richtig an der Backe. Ich wage auch gar nicht auf den Anfang August zu gucken, weil ich das nie mache, weil das wäre ja sozusagen Retroprophetie. Ich meine, es kann ja nicht ewig dauern.

Etwas anderes ist viel trauriger: auf Platz 19 schleichen sich die Beatles aus den Top 20. Ich halte es nicht ausgeschlossen, dass ein Titel zu irgendeinem Revival oder anderen traurigen Anlaß noch einmal in die Top 20 kam, aber eigentlich war es das. Von Nr. 1 grüßt der neue Kondor, und Mother Mary verläßt die Party. Man hat den Beatles auch schon damals sehr hintergejammert, aber das war genau so, als würden sich heute – ja, wer eigentlich? das Zeitalter der Bands ist ja mindestens 10 Jahre vorüber – beispielsweise Coldplay trennen, oder die Pet Shop Boys. Schade, ja, aber weiter im Text. Man ahnte damals natürlich nicht im geringsten, dass kaum noch etwas so Großes nachfolgen würde. Vielleicht noch Abba, aber die hatten nicht die richtige street credibility. Michael Jackson? Sagt nichts!


Unabhängig von unserem Beatles-Abschied können wir doch einmal ein wenig in die Literatur schlendern. Hier die SPIEGEL-Bestseller vom 15.7.1970:

Quelle: DER SPIEGEL 29/1970



Simmel auf Platz 1! Das ist allerdings ein bißchen mehr STERN als SPIEGEL. Die Simmel-Bücher, mit ihrem bunten Pinsel-Lettering des Titels, sind mir auch schon als Kind geläufig gewesen. Jimmy und der Regenbogen ist übrigens schon im folgenden Jahr verfilmt worden, und es gibt einen wunderbaren Trailer auf youtube dazu. 

Jimmy war übrigens lange Zeit Nummer 1, mit einer kleinen Unterbrechung von März bis September. Es gibt wirklich nur sehr wenig, das so bundesrepublik ist wie Johannes Mario Simmel. Es muß nicht immer Kaviar sein, Lieb Vaterland magst ruhig sein, Mit den Clowns kamen die Tränen, Der Stoff aus dem die Träume sind usw. usw.

Quelle: amazon/Droemer Knaur



Aber ernst genommen wurde Simmel nie. Genau so wenig wie Udo Jürgens. Simmel war zwar nicht so ganz trashig wie Konsalik, aber natürlich nicht so intellektuell wie Peter Handke, den wir auf Platz 4 finden. Das habe ich übrigens auch einmal gelesen und fand es scheußlich langweilig. Peter Handke und ich sind sowieso noch nie richtig zusammengekommen, obwohl ich ihm öfter einmal eine Chance gegeben habe. Aber ich finde, Peter Handke schreibt eigentlich immer nur für Peter Handke. So ähnlich wie Martin Walser immer nur über Martin Walser schreibt.


Simmel fängt an mit: „Sie wollten unbedingt einen Kopfschuß. Deshalb hatten sie Clairon kommen lassen. Er war Spezialist für Kopfschüsse.“ Handke fängt an: „Dem Monteur Ernst Bloch, der früher ein bekannter Torwart gewesen war, wurde, als er sich am Vormittag zur Arbeit meldete, mitgeteilt, daß er entlassen sei.“ Ok. Simmel will dich als Leser, Handke will sich vorstellen, wie er in einer Lesung sogar gleich zwei kunstvolle Schaltpausen in seinem Satz macht, wurde, mitgeteilt. Es wäre doch auch einfacher gegangen: „Sie wollten unbedingt einen Torschuß“.Ich glaube, Handke müßte Bassist bei Creedence Clearwater Revival werden, sollen.

Papillon habe ich übrigens auch gelesen, sogar zweimal. Das sind ja so die Bücher, die man früher auf Flohmärkten gefunden hat, in der Kiste der letzten Hoffnung, für das Stück 2 Mark. Papillon, Simmel, der Pate. Alles da.

Interessant auch die Sachbücher. Auf Platz 4 das Werk zu „Eltern entdecken die neue Mathematik“ (übrigens auch wieder Droemer Knaur). Der Punkt war nämlich, dass man die Mengenlehre auf die Lehrpläne der Kinder gesetzt hatte und die Eltern uns das nicht erklären konnten, weil sie das nie gelernt hatten. 

Quelle: amazon/Droemer Knaur



Ich weiß auch noch, wie ich als Kind diese Mengenlehre irgendwie blöd fand. Man konnte nichts richtig ausrechnen, und man hatte die ganze Zeit den Eindruck, es sollte einem hier etwas erklärt werden, was ohnehin schon völlig klar war. Mengenlehre war etwas für Handkeleser. Ich war da eher für Simmel. Sie wollten unbedingt einen Kopfrechner.

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Ich habe übrigens festgestellt, jahrzehntelang Howard Carpendales Mädchen von Seite 1 mißverstanden zu haben. Es geht keinesfalls um das Mädchen von der BILD-Zeitung oder von der TV Hören und Sehen, sondern es geht um ein Versandhandelskatalogtitelmädchen, was auch diese Zeilen erklärt: „Oh, schickt mir nicht Gardinen, und keine Nähmaschinen, und keine Filzpantinen.“ Klar, denn er will nur das Mädchen von Seite 1. Das war übrigens sein zweiter Hit in Deutschland. Sein erster Hit war Obladi-Oblada, womit sich wieder alle Kreise schließen.


Rakete der Woche: In The Summertime von Mungo Jerry
Veteran der Woche: genau wie letzte Woche: Let It Be, House of the rising Sun und Bridge over troubled Water
Liebling der Woche: Das schöne Mädchen von Seite 1!




Donnerstag, 2. Juli 2020

Nr. 13 vom 1.7.1970 oder Beischlafnummern mit eindeutigen Gesten (und Kannibalen)


Und hier sind sie wieder: die Top 20 aus dem Sommerberlin 2020 für das Jahr 1970.

Oh, eine Doppelspitze! Ich bin einigermaßen sicher, das wird sehr selten vorkommen. Wie zu befürchten war, zieht der Condor auf Platz 1 und im Flügelschatten schleicht sich das ungleich schönere Cecilia auf Platz Nummer 2. Ich fürchte ja, es wird mit dem Condor noch einige Wochen dauern. Seltsam auch, dass es ein Sommerhit gewesen ist. Es ist ein ekliges Stück, aber irgendwo doch überhaupt nicht sommerlich. Ihr kennt doch sicher die Geschichte vom Flug 571 nur zwei Jahre später über eine Rugbymannschaft, die in den Anden abgestürzt ist. Ich habe mal das Buch eines Überlebenden dazu gelesen. Von den 45 Passagieren und Besatzung starben gleich 17 beim Absturz oder in der ersten Nacht. Für die anderen wurde es rasch ungemütlich, da man nur Schokolade und etwas Wein als Proviant dabeihatte und auf 3.800m in den Anden auch keine Spargelfelder sind. Ja, und so haben sie sich dann gegenseitig aufgefuttert bzw. nur die Gestorbenen, die ja alle glücklicherweise tiefgekühlt waren (ja, ihr habt jetzt alle Bilder von der Tönnies-Schlachterei im Kopf. Dafür kann ich nichts). Insgesamt mußten sie fast 2 ½ Monate ausharren, bis sie gerettet wurden. Angeblich wurden nur zwei Frauen unangegessen gelassen (es starben insgesamt 29 Personen). Ja, und wo war während dieser Zeit El Condor Pasa? Wahrscheinlich in der Fußgängerzone von Gelsenkirchen, auf der Panflöte.
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Schauen wir doch einmal wieder in den SPIEGEL: interessanterweise gibt es im Juni 1970 eine Sondernummer zu „Popmusik“. Ich muß sagen, ich war wirklich außerordentlich erstaunt nach Lektüre des achtseitigen Leitartikels. Die Autoren schreiben über aktuelle Rockmusik in ihrem typischen SPIEGEL-Stil wie sie später über Waldorf-Pädagogik, Hare Krishna, Atomkraft Nein Danke, Fridays for Future geschrieben haben: leicht überheblich, etwas ironisch, aber durchaus mit Verständnis: so sind die jungen Leute halt. Moment. Wir haben Juni 1970. Was ist denn an Rockmusik neu? Wir sind im Jahr 8 der Beatles, die sich soeben getrennt haben. Rock, der heiße neue Scheiß?

Dann habe ich langsam kapiert, was mit als SPIEGEL-Leser, der erst ein Dutzend Jahre später eingestiegen ist, völlig fremd war: der SPIEGEL war damals ein Blatt für alte Menschen oder junge Menschen, die sich wie alte Menschen anzogen. Sozusagen für alte weiße Männer. Für die Leser von Günter Grass. Dort die geringste Vorbildung für Popkultur zu vermuten, wäre zu recht waghalsig gewesen. Im Text wimmelt es davon, wie langhaarig, wild und drogensüchtig die Konsumenten dieser merkwürdigen „Rockmusik“ sind. Deshalb setzen sie drollig jeden Bandnamen in Anführungsstriche und versuchen den althumanistischen Lesern ein wenig von der Weirdness dieser Popmusik durch die Übersetzung von LP-Titeln zu vermitteln: „Ihrer satanischen Majestät“ und „Hof des karminroten Königs“. Ansonsten versuchen sie den anständig angezogenen Bildungslinken ein klein bißchen Schauer zu vermitteln:
„Sie lieben das Verrrückte, Bizarre, Groteske, und Bands wie die „Rolling Stones“ und die „Family“, „Jefferson Airplane“ und „Grateful Dead“ animieren sie dazu.“ (SPIEGEL 25/1970)

Gerade bei den Bands rollen einem Gegenwärtigen Tränen der Rührung über die Backen, wenn ein Absatz später z.B. noch „Ten Years After“, „Jethro Tull“ und „Fleetwood Mac“ als heißer Scheiß zitiert werden. Das sind alles Sachen, die auf der Schwelle zwischen Elternmusik und Großelternmusik stehen. Vielleicht ist mir erst wieder klar geworden, wie unglaublich lange dieses 1970 doch her ist, denn man unterliegt der Illusion, so weit könne es ja nicht zurückliegen, weil man es ja selbst (als Fünfjähriger) noch miterlebt hat.

Für Nackte ist natürlich auch fotografisch Platz, denn die Gammler haben nicht nur dreckige Sachen an, sondern ziehen sie sich auch noch aus.


Sehr wenig Dreß (Quelle: SPIEGEL 25/1970)


Es ist nämlich so: „Fast alle Bands haben in ihrem Repertoire Beischlaf-Nummern, die mit eindeutigen Gesten vorgetragen werden.“ Was für ein geiler Scheiß!

Und beim gesellschaftlichen Herumerklären verwickelt sich der SPIEGEL dann auch in seinen eigenen Widersprüchen (die man natürlich sieht), etwa wenn er über Liverpool schwadroniert, denn dort „…fühlten sich die jungen Proletarier so deklassiert wie die Neger. In ihrer Wut trommelten sie aggressive Negerrhythmen und paukten sich damit aus Kellern und Gossen nach oben.“ (SPIEGEL 25/1970)

Allerdings vergißt der SPIEGEL nicht zu erwähnen, dass die „Neger“ selbst die „Negerrhythmen“ gar nicht mögen, „denn Amerikas Neger wollen keine Synthese mit westlichem Tongut mehr: sie suchen in den afroamerikanischen Musizierweisen Gospel und Soul ihr Heil.“ Das ist insofern richtig gesehen, weil keine zehn Jahre das nächste big black thing startete: Hiphop, damals noch als Rap.

Der Artikel schließt allerdings versöhnlich: „Mit ihren langen Haaren und ihrem exzentrischen Dreß (sic!) plädieren die Rock-Musiker und ihre Geeflogschauft unablässig für Toleranz, friedliches Nebeneinander und Liberalität. Wahrlich, diese Generation taugt nicht mehr zum blinden Befehlsempfang, sie verweigert sich jeglichem Drill.“ (SPIEGEL 25/1970)

Tatsächlich. So ist es dann auch gekommen.

  

Rakete der Woche: Yellow River von Christie
Veteran der Woche: gleich 3: Let It Be, House of the rising Sun und Bridge over troubled Water
Liebling der Woche: Let It Be (ist ja auch bald weg).