So, ziemlich wenig los in der Sommerausgabe 1971 der
Goldenen 20. Gerade mal 3 Re-Entries und null Neuzugänge. Vorne ziehen
Butterfly, Chirpy, Hotlove, Brownsugar und Abraham ihre Kreise, wie immer. Hier der You-tube-Link.
Das gibt uns Gelegenheit, einmal ein wenig im Musikexpress
herumzublättern. Ich wurde ja erst zehn Jahre später Leser, das heißt, wenn ich
mir die 3,50 DM (1981) für ein Heft leisten konnte, was keinesfalls immer der Fall
war. 3,50 DM waren ungefähr ein Drittel der Kosten einer italienischen
LP-Pressung (9,90 DM) und immerhin ein Fünftel der Investion einer guten
deutschen Pressung (17,90 DM). Den Musikexpress allerdings brauchte ich
hingegen, um zu erfahren, was ich mir eigentlich hätte kaufen sollen oder müssen
und nicht ausschließlich auf das Urteil meiner Freunde zurückzugreifen, das genau so zweifelhaft war wie meines. Wenn ich also den
Musikexpress kaufte, hatte ich kein Geld mehr für die dort besprochenen
Platten, und wenn ich das Geld sparte, wußte ich nicht, was ich kaufen sollte.
Das erinnert ein wenig an die bekannte Geschichte über das arme, aber
liebevolle Paar, als er seine Taschenuhr versetzt, um ihr einen schönen Kamm zu
kaufen, und sie ihr langes Haar verkauft, um ihm eine Uhrenkette zu schenken.
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Musik Express vom Juli 1971 |
Aber wir sind ja 10 Jahre früher, im Jahr 1971 (1,60 DM für ein Exemplar). Der damalige
Musikexpress war noch etwas anders drauf. Eigentlich ist der Muziekexpress eine
holländische Zeitschrift, was in den ersten Jahren dazu führte, dass viele
Anzeigen auf holländisch für holländische Produkte warben (Mi-lock socks:
modern und modieus).
Ansonsten glaubt man erst an eine Schülerzeitung:
ausgeschnittene Girlanden-Reprovorlagen, Erlebnistexte, apologetisches Fantum
und eine verblüffende große Zahl von Postern. Man hat fast den Eindruck, sich
in eine BRAVO verlaufen zu haben. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass
damals noch die Welt so jung war (wie wir kürzlich erst beschrieben haben):
Nerds und Fans lagen noch einträchtig und ungeschieden beieinander, bevor sie durch
ein Bravo-Musikexpress-Schisma in Voll-Checker-Attitüde und naives Dufte-Finden
geteilt wurden. Musik ist natürlich im ME wichtig, aber es gibt gerade mal 9
LP-Rezensionen (unter anderem wird LA Woman ganz ok gefunden), dafür aber eine
kitschige Kurzgeschichte.
Und es gibt die Doppelseite mit Kleinanzeigen
"ME-TOPPERS". Die Hälfte der privaten Inserate bezieht sich auf den
An- und Verkauf von Tonträgern. Die andere Hälfte ist deutlich interessanter:
hier möchte man Kontakte knüpfen. Wie es so der Lauf der Welt ist, suchen die
Mädchen die Jungs und die Jungs die Mädchen. Was bemerkenswert ist: alle
Mädchen suchen langhaarige Jungen. Alle. Die Jungs wiederum behaupten,
langhaarig zu sein, wohl damit sie nicht in Kurzhaarverdacht bei potenziellen
Brieffreundinnen geraten. Und ja, so funktionierte es 1971: man schrieb sich
Briefe. Übrigens sind die überwiegende Anzahl dieser Anbandelungsanzeigen mit
Name und kompletter Adresse versehen. Hier zwei typische Beispiele:
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Dieser und alle anderen Ausschnitte: Musik Express, 7/71-10/71 |
Abgesehen von der Langhaarigkeit möchte Frau-32-cm auch
einen Typen, der "vergammelt" ist. Wir geben zu: die große Zeit der
Vergammelten ist heute vorbei. Übrigens auch der Langhaarigen.
Heutige junge Damen schlagen ob der Musikauswahl wohl die Hände über dem Kopf zusammen, was
für eine grauenhafte Boomer-Mucke. Aber nein, ich muß mich korrigieren:
heutigen jungen Damen wird "Led Zeppelin" so viel sagen wie unsereins der Minnesänger "Burkhart von Hohenfels" (Mitte 13. Jhdt)). Und Uriah Heep halten sie glatt für eine Figur
aus Charles Dickens.
Die vollständigen Namen und Adressen bei diesem
Zeitlupen-Tinder verführen natürlich
dazu, einmal nachzugoogeln, was aus diesen Menschen so geworden ist. Gerade bei
selteneren Nachnamen führt das auch recht oft zu Ergebnissen. Annette ist
Steuerberaterin geworden. Margit arbeitet in einer Firma, die sich offenbar mit
Plastinationen von Leichen beschäftigt. Ich glaube, das geht den allermeisten
so, die damals vorwiegend Ten Years After und Emerson Lake & Palmer gehört
haben.
Auch solche Reisebegleitungsaufrufe gibt es häufig. Hier als
Bedingung, um mit den Damen durch Europa zu trampen: Lange Haare, klar, und "evtl." Bart. Und Student. Und Pink
Floyd, Ten Years After und Kraftwerk hören. Ja, ihre Töchter werden alles das
übrigens auf ihren No-Go-Listen haben, wenn sie dann zwanzig, dreißig
Jahre später durch Europa ryanairten.
Jungs probieren es übrigens auch. Man sieht bei folgender
Anzeige förmlich vor sich, wie Günther, Herbert und Dietmar (so hießen junge
Leute in dieser Zeit) an jedem Wort ihrer lustig-fluffigen Anzeige feilen.
"Wir sind nicht besonders nett", haha, wie witzig,
und "unmusikalisch". Übrigens
halte ich es für nicht den allerbesten taktischen Schachzug, "fast immer
knapp bei Kasse" zu sein. Möchte denn der "nette weibliche
Anhang" seine Asbach-Cola selber bezahlen? Ich glaube nicht! Dietmar hat
übrigens eine respektable Karriere in der Textilbranche hingelegt. Ein echter
Womanizer, und wohl jetzt auch nicht mehr knapp bei Kasse. Über Günter und
Herbert ist mir nichts bekannt. Weiter:
Das sind schlaue Mädchen. Erst einmal schreiben, und dann mal
weitersehen. Immerhin mögen sie kein Creedence Clearwater, sondern so ziemlich
alles, was man 1971 für Heavy Metal gehalten hat (wofür es noch kein Wort gab
damals außer "Hard Rock").
Übrigens scheint es mir so zu sein, dass das Gammeln von 1971 zum
Chillen von 2021 geworden ist. Margrit ist übrigens (wahrscheinlich)
Redakteurin bei den Öffentlich-Rechtlichen. Bei diesen Mädchen ist alles glatt
gelaufen, das ist glasklar.

Das ist mein Liebling. Die Damen haben klare, deutliche
Vorstellungen. "Christel bevorzugt Jungen die Ähnlichkeit mit Michael
Schanze haben" ist ein Satz von alttestamentarischer Wucht, glamouröser
Großartigkeit und unschuldiger Finesse. Wahrscheinlich erreichte die Damen bald
darauf ein Brief mit dem Beginn: "Ich heiße Jürgen und alle sagen, ich
hätte große Ähnlichkeit mit Michael Schanze." Oder ich stelle mir vor, wie
Christel mit einem Jungen auf dem Karnevalsfest der 8c zusammen Klammerblues zu
Nights In White Satin tanzen, er ihr die Liebe gesteht, aber sie einfach sagt:
"Helmut, du bist nett, aber du einfach siehst nicht aus wie Michael Schanze."

Neuer Versuch. Hm, "sehe nicht schlecht aus". Er
hätte vielleicht schreiben können: "sehe gut aus". Seine Hobbies sind
tanzen, diskutieren und Mode. Gammeln allerdings nicht, wie wir befremdet
feststellen, aber immerhin hat er lange Haare. Eine gewisse Unentschlossenheit
und ein vorsichtiges Abwägen merkt man seiner Zuschrift an. Was er geworden
ist: Hochschulprofessor, Spezialgebiet Risikobewertung geworden. Merkt man
irgendwie schon.
Man stößt übrigens beim Nachgoogeln dann auch auf Leichen,
inklusive Nachruf. Der romantische Boy hat sein Girl gefunden, und auch Kinder
gehabt, ist dann aber schwer und lange erkrankt, und 2017 gestorben.
Und auch noch etwas Ekliges, zum Abschluß:
Der 22jährige "schräge Vogel" sucht ein
"flügge gewordendes Girl ab 13", und zwar für Briefwechsel oder
"mehr". Das war auch 1971 ein bißchen "schräg". Er
legt dann auch noch sein Journalist-Sein mit umfangreicher Reisetätigkeit als Leimrute für die flüggen Girls
aus.
Es wird ja nicht alles schlechter, sondern im Gegenteil sehr
vieles sehr viel besser. Und unter anderem das Selbstbestimmungsrecht junger
Mädchen und Frauen, welches man Anfang der Siebziger unter dem Label sexueller Freiheit großzügig ignorierte, auch und gerade in den damals sich
verbreitenden Bildern. Bei Udo Jürgens waren es noch siebzehn Jahr, blondes
Haar, so stand sie vor mir, aber dem Schrägvogel reichen 13 Jahr völlig. Aber lange Haare, weil er selbst welche hat, und Schnurrbart.
Und was soll ich euch sagen: es gibt Schrägvogel noch immer.
Das hat mich schier umgehauen. Er pflegt mehrere Webseiten, und er ist in den letzten
Jahrzehnten nicht schlecht im Geschäft gewesen. Er ist heute noch genau so
unangenehm und klebrig wie vor 50 Jahren. Ein unangenehmer Typ, wie man an
jedem seiner Fotos sieht. Kackvogel. Schäm Dich!
Aber so möchte ich auch nicht aufhören. Einen noch. Eine
Zuschrift aus Berlin:

Hm. Hartmut ist ohne Probleme auf Facebook zu finden. Und er
hat mich jetzt wirklich gerührt. Hartmut ist klein (das schreibt er ja) und hat
ein kugelrundes Gesicht. Auf einem Foto posiert er im blauen Sakko, gestreifter Krawatte und
schwarzer Hose und einem Hut vor einem unordentlichen Büroregal. Sein Style ist
so, was man früher einmal "unvorteilhaft" bezeichnete. Auf einem
anderen Foto, im selben Keller, sitzt er in einem blaugestreiften
Polo-Shirt (das ist der Hartmut-Style)
da und kneift die Augen zusammen, als würde ihn jemand mit Blitz fotografieren,
obwohl man das nicht mehr macht. Er trägt eine silberne Schlüsselkette am Gürtel.
Er hat mehrere kleine Hunde einer sehr seltenen Rasse, die aber alle wie ausgestopft aussehen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er einen Kleingarten
hat. Sonntags fährt er dann raus, angelt den Gartentorschlüssel an der
silbernen Kette aus der Tasche, schließt auf, trägt den ausgestopften Hund in
den Garten und zupft im Vorbeigehen etwas Unkraut ab. Das ist Hartmut, gegen
alle Gewalttaten, und das Aussehen ist egal.
Dauerbrenner der Woche: Die Kackfrösche CCR sind endlich weg! Und
jetzt Rose Garden!
Rakete der Woche: Ein verrückter Tag von Michael Holm
Liebling
der Woche: I Did What I Did For Maria!