Montag, 30. November 2020

Nr. 23 vom 1.12.1970 oder Die 70er endlich einmal komplett erklärt

 


Zunächst eine Korrektur: wir hatten ja immer von „Wochen“ gesprochen; da die Hitparade aber nur alle zwei Wochen erschien, war die Goldene-20-Woche also 14 Tage. Wir haben das heute einmal korrigiert. Bald – also zu Beginn des Jahres 1971, stellte man übrigens auf wöchentliche Charts um. Wir denken, dass wir dieses kleine Projekt durchaus noch eine kleine Zeit werden fortsetzen können, aber jede Woche werden wir nicht schaffen. Insofern werden ein klein wenig umbauen müssen. Den Fehler mit den „Wochen“ ist jetzt schon ausgemerzt. Und hier ist die Playlist aufYoutube. 

Übrigens möchte noch etwas zur letzten Ausgabe nachtragen. Wir hatten nachlässig aus dem Handgelenk formuliert, dass die 80er wohl das lange 19. Jahrhundert der Popmusik seien. Doch mal etwas genauer: Als 1789 hatten wir uns die erste Joy Division von 1979 gedacht, als 1914 die Nevermind von Nirvana von 1991. Ich glaube aber, genau so richtig wären Parallel Lines von Blondie (1978) am Anfang und vor allem auch Blue Lines von Massive Attack am Ende (auch 1991, danke Maki), zumal dann Heart Of Glass und Unfinished Sympathy sehr schöne Ecksteine der Dekade bilden und man sich das mit den parallelen blauen Linien auch gut merken kann.

Klar ist aber, dass diese 80er länger dauerten, als ihnen als Dekade eigentlich zehnjährig zusteht, genau wie das 19. Jahrhundert ziemlich genau 125 Jahre dauerte. Und mit dem historischen 19. Jahrhundert teilen sie eine Überfülle, ein Ziemlich-viel-drüber-sein, die und das irgendwann in sich zusammenfiel.

Aber wir stecken ja hier 10 Jahre früher im Jahr 1970. Es ist interessant zu sehen, wie sich in dieser die Popmusik langsam auseinanderklappt in ganz verschiedene Szenen, Disziplinen, Spielarten, Moves & Styles. Gewiß hat es die Varianten schon in den Sechzigern gegeben (Soul, Folk, Psychodelia), aber das waren immer noch verschiedene Straßen im selben Stadtviertel, wohingegen in den Siebzigern die Musik verschiedene Stadtviertel in derselben Stadt sein wird. Wir ergänzen ungern, dass später (vielleicht gerade nicht in den 80ern) es verschiedene Städte in vielleicht demselben Land sein werden, und zur heutigen Musik müssen wir allenfalls zugeben, es seien verschiedene Galaxien im selben Arm der Milchstraße. Dabei – und das fasziniert uns wirklich – hört man die Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit erst viel später, und man muß eine Dekade erst einmal eine weitere Dekade ruhen lassen, bevor man hört, wie sie sich angehört hat. Ich glaube, ich weiß auch erst seit ein paar Jahren, wie die Neunziger klangen, da man den Wald erst sieht, wenn man aus ihm herausgetreten ist.

Das soll jetzt aber nicht zum Mißverständnis führen, es hörte sich alles aus dieser Zeit gleich an. Interessanterweise wird das  Argument, es hörte sich alles gleich an, meistens auf die Gegenwart bezogen. Joachim Hentschel von der SZ hat am Wochenende darüber geschrieben, und er berichtet über den Toningenieur Rick Beato, der sich über die Gegenwart beschwert:

„Ältere Menschen hassten es, analysierte er, dass fast alle neueren Popsongs im selben Tempo laufen, mehr oder weniger dieselben Klangfarben und Effekte benutzen und dazu sehr simple, sich ständig wiederholende Harmoniefolgen, kaum Dynamik und digital gleichgemachte Singstimmen haben…. Gut, darauf wäre man auch so gekommen. Allein deshalb, weil es im Kern immer noch dieselben, feuerfesten Argumente sind, mit denen schon Eltern in den Sechzigern ihren Kindern die Beatles madig gemacht haben, und mit denen diese Kinder dann, in den Neunzigern, die eigenen Töchter und Söhne für blöd erklärten, weil sie zu Technomusik tanzten.“

Den interessanten Artikel dazu, witzigerweise über Miley Cyrus, gibt es hier. 

In der Vergangenheit kennt man eben die Gegend besser, was es vereinfacht, sowohl die Unterschiede als auch die Gemeinsamkeiten herauszuhören. Um die Unterschiede zu hören, sollten wir uns einmal umd das Gemeinsame dieser Stadtviertels bemühen, wie es sich 1970 angehört hat. Tatsächlich gibt es einen gemeinsamen Nenner, der gar nicht mal so klein ist: die klassische Band-Besetzung mit 2 Gitarren, Bass, Schlagzeug, dazu gerne ein Piano oder auch eine Orgel. Schrammelige Rhythmusgitarre, ein strikter 4/4-Takt, dreiteiliger Refrain-Strophe, und wenn es hochkommt noch eine Bridge dazwischen. Dazu: Bass und Schlagzeug sind ineinandergemischt und ergeben ein generell diffuses, verwaschenes Klangbild, höchstens einmal versetzt mit einem Slide-Gitarrensolo wie ein Ameisenstich. In dieser Woche etwa zu hören bei CCR, Dawn, Christie, Rattles, Tremeloes, Neil Diamond. Bei der Hitparadenware gerne dazu mal Orchester und/oder Bläser, aber eigentlich nur für die Klangfarben (Dawn, Neil Diamond).

Natürlich ist nicht alles gleich, logisch, hört etwa mal den Bläsersatz bei Edwin Starr, damit kann man Aluminium schweißen. 

Die Miley Cyrus der Siebzigerjahre (Quelle: Melody, youtubewatch?v=28ighMrwydA)

Fast alle englischsprachigen Lieder folgen dem Schrammel-4/4-Waschküchenschema, und der Gesang liegt dann lässig darin wie die Marmelade in der Butterkrem. Das ist auch der Unterschied zum Schlager: da wird ebenso im Hintergrund geschrummelt, aber Stimme und vor allem Backgroundsänger extrem nach vorne gemischt, also eher die Kirsche auf der Torte (hört als Beispiel einmal Daliah Lavi).  Das war übrigens in den Sechzigern ähnlich: gerade die frühen Beatles-Lieder beruhen auf einen extrem nach vorne gemischten Gesang inklusive Chorus, aber halt eben mit weniger Geschrammel und ohne Waschküche. Bei Dire Straits, die auch in den Schrammelsiebzigern großgeworden sind, haben sie den Schrammelgitarristen (ausgerechnet Mark Knopflers Bruder) nach zwei Platten rausgeschmissen und dann festgestellt, dass er völlig überflüssig war (so fehlt etwa bei Romeo & Juliet die Schrammelgitarre im Hintergrund).

Dieses Zusammenschmieren von Rhythmus, Melodie, Gesang ist auch einer der Gründe, warum der Siebzigerjahre-Sound so berüchtigt ist, und deshalb sind viele von T.Rex und den frühen Roxy Music erst einmal enttäuscht: was für ein komischer Sound! Und die sollen cool sein? Kennt ihr diese Gesteckschwämme aus grünem Blockschaum? Ein altes, faul riechendes Stück Blumenschwamm, das man im Keller gefunden hat – das ist der Sound der 70er. Die 80er hingegen klingen nach buntem, glattem Plastik, und erst die 90er klingen akzeptabel genug, wie man sich das anständiger Plattenhörer aus den 20ern des Nachfolgejahrhunderts so vorstellt.

Ich möchte aber dem Einwand begegnen, wir würden die 70er doch arg zu sehr dissen und eigentlich gar nicht mögen. Ja, nein, vielleicht, möglicherweise. Es ist die Erkenntnis, dass die Musik einer Zeit immer gleich gut oder gleich schlecht ist, man es aber nicht immer sehen kann, in der eigenen Zeit sowieso nicht, aber auch oft später nicht, weil man vor dieser Zeit, dieser Musik ein großes Möbelstück nicht weggeschoben bekommt. Wir werden das natürlich alles ganz genau weiter beobachten! Mit Euch zusammen! Schönen 1. Advent!

Rakete der Woche: Desmond Decker mit +11
Veteran der Woche: Der ewige Condor 12 Apps = 24 Wochen = so alt wie die Anden
Liebling der Woche: Mireille Mathieu weil das so schön dreckiger Punk ist, himmelblaaaaaaaau, da kannste dir noch eine Oktave abschneiden, Miley



Freitag, 13. November 2020

Nr. 22 vom 15.11.1972 oder Der lange Schweif der musikalischen Kometen

 


Hier die aktuellen Top 20 auf Youtube!

 Was für eine Konstellation! Das kitschhymnige Song Of Joy auf Platz 1, belagert von Black Night und von Paranoid, zwei ewigen Klassikern der Metallmusik, und darunter die Fußgängerzonenpanflöten von El Condor Pasa. Das wäre, als wäre ein Metallhammer eingepackt in Zellophanpapier mit Schleife drumherum.

Wir haben 10 Bands und 10 Einzelinterpreten in unseren Top 20. Es sind 50 Jahre vergangen. Wie viele dieser Interpreten sind heute noch aktiv? Na, werdet ihr denken, die sind ja alle in Rente, vielleicht drei oder vier? Weit gefehlt. Es sind elf. 60% der Einzel-Interpreten aus dem November 1970 arbeiten noch für ihre Rente, die sie alle schon längst erreicht haben. Selbst Heintje ist im August 65 Jahre alt geworden. Aber auch Heintje hat noch letztes Jahr eine LP „Lebenslieder“ veröffentlicht, die sich immerhin auf Platz 5 der Albumcharts etablierte. Und kurz zuvor hat er noch – das möchte ich ausdrücklich der Ausgabe Nr. 20 nachtragen, zwei Alben „Heintje und ich“ veröffentlicht. Auf der ersten CD sind Heintjelieder, auf der zweiten CD singt Hein Simons. Schaut euch mal das Cover an. Ist das nicht spooky? 

Heintje, und Heintje (Quelle: Heintje, amazon)

Hein Simons, der sein hinein photoshopptes kleines Heintje-Ich umarmt. Ich möchte das ja nicht psychoanalytisch deuten – und lasse es auch.

Schauen wir uns die anderen Fälle an, und kommen wir erst zu den Toten. Das ist erst einmal Roy Black im Jahr 1991, der gefolgt wird von Edwin Starr 2003, Udo Jürgens 2014 und Daliah Lavi 2017. Der Rest ist putzerlgesund und läßt sich zumindest noch auf Schlagerfestivals einladen, wenn sie denn nicht coronalisiert wurden. Die meisten sind übrigens so ungefähr 75 Jahre alt, was zeigt, dass sie alle ungefähr um die 25 Jahre alt waren, als der helle Sonnenstrahl des Popmusikerfolgs ihnen zuerst ins Gesicht fiel.

Die Beharrlichkeit der Bands ist noch verblüffender. Erster Abgang ist natürlich Simon & Garfunkel, die im November 1970 schon acht Monate aufgelöst waren (um sich hin und wieder zusammenzufinden). Die Hotlegs gingen 1971 in 10cc auf (die es noch gibt), Creedence Clearwater lösten sich 1972 auf, Free folgten ein Jahr später. Dann ist bis 2017 Ruhe, als dann Black Sabbath sich in Frieden trennten (wohl auch der Erkrankung des langjährigen Gitarristen Tony Iommi geschuldet).

Rekordhalter sind übrigens Golden Earring, die sich 1961 gegründet haben, damit älter sind als die Beatles und noch immer nahezu in Originalbesetzung aktiv sind. Da sind Deep Purple (Gründung 1967) ja noch richtige Jungspunde, zumal sie immer mal wieder einige Jahre aussetzten. Aber man sollte nicht meckern: drei der fünf derzeitigen Mitglieder waren schon in den Sechzigerjahren dabei (nicht allerdings Jon Lord, gest. 2012, und Ritchie Blackmore, beleidigt seit 1993). 

Adam und Eva, Moses, dann aber kamen sofort Golden Earring
(Quelle: 
AVRO)


Was einem zu dem eindeutigen Schluß bringt, dass die Vergangenheit länger dauert als die Gegenwart. Das wäre eine Binse, weil es ja logisch ist, wenn man etwa die Vergangenheit eines Herrn Jesus auf 2020 lange Jahre beziffert, die Vergangenheit des Dreissigjährigen Kriegs auf 302 Jahre, die Vergangenheit der ersten Beatles-Single auf 58 Jahre, während die Gegenwart ein kleines Dahinspucken ist.

Die Gegenwart der Vergangenheit ist deutlich länger als die Gegenwart der Gegenwart. Wir wohnen in einer Stadt aus Kathedralen, Denkmälern und Hardrockbands, die länger zusammen sind als ich alt bin. Wer hätte gedacht, dass der Schweif des Musikkometen derart lang ist? Vielleicht war 1970 einfach viel mehr los als heute. Jedenfalls hätte damals niemand gedacht, dass man noch in 50 Jahren aktiv oder bekannt wäre, zumal das eine Zeitspanne war, die es in der damals noch jungen Popmusik einfach unausdenklich war. Man hatte noch überhaupt keine Zeit gefunden, dicke Gesteinsschichten aus dem alten Scheiß anzulegen.

Als ich in den Siebzigerjahren musiksozialisiert wurde, gab es den aktuellen Kram. Die Sechziger waren die alten Sachen, und die Fünfziger die uralten Sachen, die sich aber niemand mehr anhörte. Wir reisten musikhistorisch mit leichtem Gepäck. Vor allem hatte es noch keine Achtzigerjahre gegeben, die vielleicht das lange 19. Jahrhundert der Popgeschichte sind. Es ist faszinierend zu sehen, was sich alles schon in der Hitparade spiegelt. Wir stehen am Beginn der großen Schlagerzeit. Black Night & Paranoid sind die ersten Hard-Rock-Hits, weil es den Begriff Heavy Metal noch nicht gab. Alles das wird uns noch Jahrzehnte begleiten, war damals aber brandneu. Und was noch alles kommen wird! Glam, Prog, Punk, Disco, Wave – alles noch nicht existent oder in winzigen Spurenelementen.

Wobei man sich nicht täuschen lassen sollte: man kennt sie nahezu alle noch 50 Jahre später, aber das große Schisma zu den Achtzigern hat kaum einer als Top Act überstanden. Am ehesten noch – und das ist wirklich lustig, Udo Jürgens. 

Popmusik kann wirklich, wirklich alt sein. Golden Earring haben 31 Alben veröffentlicht, und Deep Purple gerade das 20. Studioalbum. 

Rakete der Woche: War von Edwin Starr +6 P.

Veteran der Woche: Der elende Condor 11 W.
Liebling der Woche: Black Night von Deep Purple