Mittwoch, 16. September 2020

Nr. 18 vom 15.9.1970 oder Viva Musikhaus Prunk in Delmenhorst




Zum drittenmal hintereinander ist Nr. 1 In The Summertime, und wieder lauert dahinter der Alpencondor. A Song Of Joy arbeitet sich langsam Richtung Elysium. Apropos: das hatte ich kürzlich gar nicht erzählt, als wir über Götterfunken geplaudert hatten. Ich war in der fünften und sechsten Klasse im Schulchor, allein deshalb, um noch eine Vier oder bestenfalls eine Drei zu kriegen. Das war nämlich unseren Musiklehrer Herrn M. sehr wichtig. Man konnte locker eine Note gutmachen, wenn man im Schulchor war, und zwei Noten, wenn man im Orchester war, auch wenn es nur die olle Flöte war. Da ich aber komplett unfähig war und bin, ein Instrument zu spielen, mußte ich also meine Stimme im Schulchor verkaufen. Natürlich könnte ich nicht im mindesten singen, aber das fällt nicht so auf, wenn zwanzig schlechte Stimmen gegen zehn schlechte Flöten ansingen. Wie auch immer: genau in eine dieser Stunden habe ich dann die Bekannschaft von Elysium gemacht, weil das im Schulchor gesungen wurde. Nochmal der Text:


Freude, schöner Götterfunken
Tochter aus Elysium,
Wir betreten feuertrunken,
Himmlische, dein Heiligtum!

Also, ich interpretierte das so: die Freude der Götterfunken ist die Tochter, die aus Elysium kommt. Ich hielt Elysium für ein Land oder eine Gegend wie Texas, Rheinland-Pfalz oder Transsilvanien. Es hätte mich nicht gewundert, wenn in der ADAC-Motorwelt in den Anzeigen eine Reise nach Elysium für 299 Mark angeboten worden wäre. Ich weiß gar nicht, wann ich mir den Elysiumirrtum korrigierte. Wahrscheinlich, kurz nachdem ich feststellte, dass die Zauber gar nicht binden, was die Mode streng geteilt.


Übrigens ist das sehr interessant, wie wenig dynamisch unsere Hitparade gerade ist. Ich habe das mal für unser Jahr 1970 aufbereitet. Es geht um die durchschnittliche Verweilzeit aller aktuellen Titel der Hitparade. Die ist in dieser Ausgabe auf 3,95 Wochen angestiegen. Anfang April war sie auf 3 Wochen gefallen. Ich bin einmal gespannt, wie sich das in der nächsten Zeit darstellt. Ich tippe darauf, dass es zum Herbst/Winter wieder abfällt und dann wieder steigt. Wir beobachten das weiter!





Wieder ein elender Neueinstieg der elenden Creedence Clearwater: Lookin‘ Out My Back Door. Wir sind gerade so auf dem Höhepunkt ihrer Karriere, und unser einziger Trost ist, dass es von dort auch nur bergab geht. Es ist ihre LP Cosmo’s Factory, die drei große Hits abgeworfen hat. Ihr größter Hit für Deutschland steht uns allerdings noch bevor, so fürchte ich. Lookin‘ Out My Back Door ist das nervtötende Lied mit dem herausgequetschten „doo doo doo“. Ich weiß auch noch, dass ich das als Kind schon nicht mochte. Das Video zeigt auch wieder einmal die ganze Selbstzufriedenheit der Truppe. Grauenhaft.

 Aber bei den Neueinsteigern ist deutlich mehr Licht als Schatten: zu Black Night werde ich einmal nächste Woche etwas schreiben. Jetzt zu The Who, mit denen der Summertime Blues leider nur eine Woche lang unser Gast sein wird.
Ein großartiges Stück. Schon das Original von Eddie Cochran ist richtig dreckig, aber die Who bringen es noch kaputter, fertiger und abgefahrener hin. Ein Wunder, dass es als Single veröffentlicht wurde und sich dann – wenn auch kurz – sogar platzierte. Es ist eine Auskopplung der berühmten Live At Leeds LP, vielleicht eine der besten LIVE-LPs aller Zeiten. Die Herrschaften spielten vor knapp 2.000 Zuhörern im Refektorium der dortigen Universität, und auch heute verblüfft noch, wie direkt, auf den Punkt, laut und schmutzig diese Platte ist. Als richtig ernsthafte Veröffentlichung war sie gar nicht geplant, sondern quasi bootleg-artig. Und eigentlich war sie als „Live at Hull“ geplant, aber da war die Tonbandanlage kaputt, dumm gelaufen, Hull. Die Platte hat für einiges herhalten müssen, Erfindung des Heavy Metal, Erfindung des Punk und offenbar alles dazwischen. 

Single von 1970. Musikhaus Prunk. Quelle: discogs

Hier die Originalsingle von discogs herübergeladen. Besonders freut uns natürlich der Aufkleber „Musikhaus Prunk Delmenhorst“. Was für ein Supername für ein Musikhaus! Ich wette, die hatten keine CCR-Platten, so etwas hatte ein Musikhaus Prunk überhaupt nicht nötig. Im Netz gibt es Geschichten, wie man später auf Tüten das R aus Prunk ausgelöscht hat. Viva Musikhaus Punk!

Der Summertime Blues hat jetzt auch in dieses Spätsommerberlin des Jahres 2020 geschafft. Der Spätsommer des Sommers, den wir später einmal den Coronasommer nennen werden. Ain’t no cure for the Summertime Blues.


Rakete der Woche: Komm in Boot von Adamo +9
Veteran der Woche: Du von Peter Maffay mit 11 Wochen
Liebling der Woche: natürlich Summertime Blues von The Who


Freitag, 4. September 2020

Nr. 17 vom 1. September 1970 oder Der neueste Hit in Meynypilgyno



















Das hatten wir auch noch nicht, dass die ersten vier Plätze komplett festgenagelt sind: zuerst unser Sommersinger Mungo Jerry, dann das unsägliche Condor Pasa, dann Yellow River (wir werden auch kein Freund davon) und dann Freude schöner Riosfunken. Erst dann schleicht sich die Free klammheimlich in die Top 5. Die Condor-Pasa-Pest ist insofern noch schlimmer geworden, als dass NOCH EINE VERSION eingestiegen ist, und zwar gleich auf Platz 9. Das Beängstigende ist auch, dass es sich hier um eine Flöten- (allerdings nicht: Panflöten-) Version handelt. Es gibt auch mehrere Coverversionen, die meistens von Michael Holm übersetzt wurden („Der Condor fliegt“). Hier eine Fernsehaufzeichnung von 2011, wo Herr Holm den Condor vor einigen Senioren gibt. Die Tititacasee-Mäßigkeit des Bodensees ist allerdings eher gering, und der Condor wird von einigen Möwen gecovert. Wir haben Michael Holm ja für Mendocino angebetet, aber muss das jetzt sein? Das wäre, als würden die Beatles zur Eröffnung von Autohaus Opel Mairhofer in Freilassing spielen. Bitter.
---
Ich bin übrigens beeindruckt, wie hartnäckig Shocking Blue auch die deutsche Hitparade – na, nicht überfluten, aber sie sind regelmäßig Gast. Übrigens werden sie sogar bis 1972 in Deutschland Hits haben, sowieso natürlich in NL, wo der Railroad Man sogar Nr. 1 gewesen ist. Wohlgemerkt: gewesen ist, denn zu damaligen Zeiten gab es noch eine Zeitverzögerung zwischen den Länder-Charts. Als langjähriger Holland-Urlauber wußte: wenn ich aus den Ferien zurückkam, waren die Lieder, die in Holland sich schon wie alte Pantoffeln bogen, in Deutschland der neueste heiße Scheiß. Ich habe das einmal für einige Titel aus unserer aktuellen Top 20 nachvollzogen, und zwar in Bezug auf den Chart Entry in die Top 20:



UK
NL
D
Shocking Blue/ Railroad Man
-
06.06.1970
15.08.1970
Mungo Jerry/In The Summertime
06.06.1970
27.06.1970
15.07.1970
Christie/Yellow River
02.05.1970
06.06.1970
01.07.1970
Free/All Right Now
06.06.1970
04.07.1970
15.08.1970
CCR/Up Around The Bend
20.06.1970
16.05.1970
15.06.1970
Mr. Bloe/Groovin' With Mr. Bloe
09.05.1970
04.07.1970
01.08.1970
Cecilia/Simon & Garfunkel

09.05.1970
01.05.1970

Und siehe da: tatsächlich gibt es eine Verzögerung zwischen D und NL, und auch zwischen NL und UK. Idealtypisch sieht man das an Yellow River von Christie: Anfang Mai in die englischen Charts, Anfang Juni zu den Holländern und Anfang Juli dann zu uns nach Deutschland.

Es liegt aus Vermarktungsgründen eine gewisse Logik darin, die Hits mit einem Kometenschweif über den Himmel ziehen zu lassen: so war es dann eher möglich, Auftritte in Fernsehsendungen etc.

Interessant ist es, dass es von Westen nach Osten geht: zuerst in England, dann Holland, dann Deutschland. Das wäre natürlich super, wenn die West-Ost-Gezeitenwelle der Superhits dann in Ostsibirien so langsam ausläuft, dass man etwa in Meynypilgyno, das ist das ländliche Ostsibirien, NOCH NIE El Condor Pasa gehört hat.

Überhaupt kochten lokale Plattengesellschaften auch ihr eigenes Süppchen; als Beispiel hier einmal die drei Länderausgaben der Singles von Yellow River. Warum? Weil sie es konnten. Und immerhin ist hier sogar die B-Seite jeweils gleich, was keinesfalls immer der Fall war. Die Plattenfirmen haben sich ja sogar länderbezogen an den LPs vergriffen, wie der berühmteste Fall der Beatles bei Capitol/USA und EMI/Europa zeigt: bis 1967 (und das ist drei Jahre her!) hatten alle Beatles-LPs in USA und UK eine andere Tracklist oder sogar andere Namen. 











Wir haben uns extrem an die Gleichzeitigkeit gewöhnt und halten sie für eine Gleichzeitigkeit der Ereignisse, obwohl es eigentlich eine Gleichzeitigkeit der Medien ist. Bis zur Verlegung des ersten Transatlantikkabels 1866 konnte ein Ereignis, das heute in Amerika stattfand, frühestens in einer Woche in England sein, es sei denn, der Krakatau fliegt in die Luft, was so laut, dass es ein Drittel der Weltbevölkerung hören konnte. Aber da es noch kein Radio gab, war man wiederum auf Zeitungen angewiesen. Man lese beispielsweise einmal die Berichte von der ersten Fußball-WM 1930, die Wochen später in Europa eintrudelten. Bis 1956 (also 14 Jahre vor dieser Hitparade!) wurden Telefongespräche über Langwellen-Funksender zwischen USA und Europa ausgetauscht, und zwar zuletzt 2.000 pro Jahr. Über Whatsapp werden aktuell 60 Milliarden Nachrichten verschickt, und zwar pro Tag.
Das Schöne war, dass man in gewisser Hinsicht Zeitreisen unternehmen konnte. Ich weiß  noch, wie ich aus dem Osterurlaub 1981 mit der neuen Fischer Z mit Red Skies Over Paradise gekommen bin. Das kannte bei uns niemand. Marliese, Berlin, Cruise Missiles, das war toll, das war ein bißchen Reggae, Punk und Politik. Ich war ein Musik-Orakel im Freundeskreis. Der Effekt hielt ungefähr zwei Wochen an, und da ich nichts neues Neues nachliefern konnte, war ich dann wieder der übliche Langweiler, der ich vorher auch gewesen war. Ja, so war das im theatre of memories („Berlin“). Aber vielleicht sollte ich mal nach Meynypilgyno. Da kennen sie Fischer Z garantiert noch nicht.
---
Neu auch die Hotlegs mit dem doofen Titel „Neanderthal Man“. Aber bitte nicht unterschätzen. Bei den Hotlegs handelt es sich um die späteren 10cc, auf die wir uns in den nächsten Jahren noch freuen werden (z.B. auf das unglaubliche „I’m not in love“). Ich lese mit Erstaunen, dass diese Hotlegs tatsächlich eine LP herausbrachten, und die ist auch noch ziemlich gut, jedenfalls um Längen besser als dieses öde Neanderthal Man, hört mal hier.



Rakete der Woche: Lola und Flöten-Condor-Pasa (jeweils +11)
Veteran der Woche: Du von Peter Maffay mit 10 Wochen
Liebling der Woche: Never Marry A Railroad Man von unseren Holländern!