Dienstag, 14. Januar 2020

Nr. 2 vom 15.1.1970 oder Lang lebe Radio Veronica!


Gleich zweimal ist die Band Shocking Blue vertreten, auf Platz 20 (NEU) mit MightyJoe und auf Platz 11 mit Venus. Shocking Blue ist Protagonist des sogenannten „Nederpop“. Ja, das gibt es wirklich und ist sozusagen der holländische „Deutschrock“, nur eben Pop statt Rock, weil die Holländer etwas flockiger sind als der ernste Rockdeutsche. Nederpop sind z.B. Earth & Fire, George Baker Selection, Luv, Ekseption, Teach-In, Pussycat usw. Und tatsächlich gibt es etwas Verbindendes, etwas Gemeinsames, denn beim Holländer ist ein gewisser Unernst dabei, der ihren europäischen Nachbarn fehlt. Dieser holländische Unernst mag auch in der wesentlich tieferen und durchgreifenderen Wirkung der Endsechziger zu tun haben. Ich war einige Jahre später oft in Holland und darüber schon als Kind etwas erstaunt. Holland sah einfach anders aus. In Holland standen David-Hamilton-Fotos als Deko in den Parfümerien. Die Jugendlichen trugen Clogs, die Jungs hatten Bärte, die Mädchen Tücher im Haar und über die Schulter eine selber zusammengenähte Tasche. Vielleicht fällt es mit dem calvinistischen Erbe leichter, modern zu werden. Und auf der Straße hörte es sich so an, als würden alle Holländer englischsprachige Popmusik hören. Da passte es gut, dass die Holländer sogar einen echten Piratensender hatten: Radio Veronica, der von einem ausgedienten Feuerschiff vor der Küste sein Programm ausstrahlte, aber dazu ganz normale Werbeeinnahmen hatte. Die wilde, ungebundene Piratenzeit von Radio Veronica dauerte von 1959 bis 1974, und lustig: es gibt einen Archiv-Stream, der die Musik und Reklame bis heute durchsendet: (das ist Radio Veronica 192, nicht verwechseln mit dem normalen Radio Veronica, das zu einem ganz normalen Formatradio hinabgesunken ist). Dieser Internet-Stream ist so eine Art Zombieversion des originalen Radiosenders, und es werden sogar Werbejingles längst verrauchter Amsterdamer Geschäfte dazwischengespielt. Jedenfalls hatten die Holländer zur Volksbildung Radio Veronica mit Shocking Blue, wir hatten WDR2 mit Zwischen Rhein und Weser auf (ich höre nebenbei Veronica-Reklame. Die Margarine blueband ist noch mehr smakelijk als früher!).

Veronica von Radio Veronica (Quelle: ad.nl)

Und das wirkte auf die Jugend zurück. Während bei uns mindestens 50% der Jungs eines Jahrgangs ohne Modifikation ihres Aussehens in einem Wehrmachtsfilm hätten mitspielen können, waren alle jungen Holländer ausnahmslos langhaarig. Westdeutschland 1970 war ein Land der 50jährigen. Nederlande 1970 war ein Land der Zwanzigjährigen. Die holländische Ausgabe der Shocking-Blue-Single zeigt übrigens die Venus von Milo – mit Brüsten, das ging für BRD nicht, also dann entschied man sich für einen merkwürdigen Skulpturkompromiss. Shocking Blue jedenfalls befinden sich gerade im Januar 1970 auf dem Weg nach oben. Eigentlich sind sie drei (erfolglose) Musiker, die sich mit einer (erfolglosen) Sängerin zusammentaten. Über diese Mariska Veters notiert der Musikexpress etwas später: „Eine aufregende Stimme, einen Vater, der ein Zigeunerorchester leitet. Auch sie war in Rock-Kellern erfahren.“ Nun ja. Einige Jahre später haben Shocking Blue sich aufgelöst und verschwinden aus unserer Geschichte. 


Züchtige Venus (Quelle: discogs)




Auf Platz 19 finden wir Heya von Jeronimo, das ich ohne weiteres auch in die Nederpop-Tüte gesteckt hätte, aber Jeronimo sind aus Frankfurt. Die Band macht scheußlichen Hardrock irgendwo zwischen Deep Purple und Uriah Heep, aber vor allem hat sie zwei Sünden auf ihr Haupt geladen: Heya in dieser Woche, und später haben sie dann noch Na na Hey Hey Goodbye gecovert, beides in jeweils abgewandelten Texten bis heute Stadion-Schunkel-Lieder. Sehr unsympathisch, sehr schrecklich, sehr schlimm. Dabei ist Heya auch schon eine Coverversion, nämlich des gleichlautenden Liedes von J.J. Light, welches (so viel begründeter Prophetie sei in diesem Blog erlaubt) ebenfalls sehr bald die Hitparade entern wird. Die Originalversion ist nicht mal groß anders, wobei sich mir nicht erschließt, warum es überhaupt diese Heya-Version von Jeronimo braucht. J.J. Light ist allerdings Navajo-Indianer und kein Hesse, und außerdem der Komponist des Stückes, was ihn meiner Meinung nach damit zu würdigeren Heya-Rechten verhilft. Das erinnert mich daran, wie viele Jahre später einmal „Über sieben Brücken mußt du gehn“ von Karat in die Hitparade war und von Peter Maffay zeitgleich gecovert wurde, und zwar unter dem Titel „Über sieben Brücken mußt du gehn“. Der einzige Unterschied ist die Peter-Maffay-Haftigkeit der Peter-Maffay-Version und ein scheußliches Saxophonsolo (so etwas hatten sie in der Zone nicht).

Auf bald!

Rakete der Woche: Mademoiselle Ninette ( plus 11 Plätze)
Blei der Woche: Venus (minus 8 Plätze)
Veteran der Woche: Mendocino (12 Wochen)
Liebling der Woche: Come Together



Mittwoch, 1. Januar 2020

Nr. 1 vom 1.1.1970 oder Weine nicht, kleiner Flipper


Dieser kleine Blog ist sozusagen ein Jubiläumsblog. Hier sollen die deutschen Single-Charts vor 50 Jahren beleuchtet werden. Im alten Brockhaus-Blog hatte ich mich um Illustrationen in einem Buch aus dem Jahr 1952 gekümmert. Jetzt rücken wir fast zwei Jahrzehnte weiter, in die 70er, die damals genau so frisch waren wie unsere 20er.

Der Blog wird in Echt-Jubiläums-Zeit geschrieben. Das heißt, wir werden uns im September 2020 um die Charts von September 1970 kümmern. Nicht früher. So wird es dann noch vier Jahre dauern, bis wir ABBA erreichen. Das sind marsreisenähnliche zeitliche Dimensionen, die nur durch Unverzagtheit und Mut zu bewältigen sind!

Zunächst wird dieser Blog alle 14 Tage erscheinen, weil die deutschen Charts ebenfalls nur alle 14 Tage erschienen. Danach wird man sehen. 

Also, Leinen los. Meine anfängliche Nervösität ist am leichtesten dadurch zu bekämpfen, indem ich einfach anfange.  Die deutschen Single-Charts von 1970, und das ist die Ausgabe vom 1. Januar 1970:


Ja, wir werden noch einiges über Wieso-weshalb-warum zu sprechen haben. Aber das jetzt noch ein wenig Zeit.

Unser allererstes Lied auf der Nr. 20 ist Sweet Dream von Jethro Tull, nicht gerade die Meister der locker aus dem Handgelenk geschüttelten Popsingle. Und so ist ihr Sweet Dream auch ein eher widerborstiges Stück, bei dem man sich fragt, wie so etwas zu einem kleinen Hit werden kann. Also, ich könnte da jetzt nicht zu rhythmisch tanzen und mein Haar in alle Richtungen werfen, last night Jethro Tull saved my life wohl eher nicht. Apropos Haar: auf dem Single-Cover sieht man die Band, alles Hippies, in einem Wildwestern-Look. Um es auf den Punkt zu bringen: 1968er Zausel kostümieren sich als 1868er Zausel.Grauenhaft. Das mit Abstand bekannteste Lied von Jethro Tull – Locomotive Breath – schaffte es übrigens nicht in die deutschen Charts, dafür waren ihre LPs um so erfolgreicher. Tatsächlich gibt es Jethro Tull noch heute - der Bandchef Ian Anderson (ganz links auf dem Zauselfoto) hat seine Besetzung mehrfach durchgewechselt, mit insgesamt 28 Bandmitgliedern. 50 Jahre sind wirklich voll lange, um so erstaunlicher, aber auch erschreckender, daß es manche Bands immer noch gibt. Fragt die Rolling Stones, Who, Golden Earring. 



(Quelle: discogs)


Ein ganz anderes Ding ist unser Platz Nummer 19. Weine nicht kleine Eva von den Flippers. Frisurmäßig sehen die Flippers natürlich viel anständiger aus als Jethro Tull. Rätselhaft allerdings, warum auf dem Cover ein Fisch herumschwimmt. Flippers=Flipper=Delphin=Fisch? Die Flippers wurden 1964 als „Dancing Band“ gegründet (Schwachsinns-Bandname), umgründeten sich ein Jahr später als „Dancing Show Band“ (genau so doof), um sich dann 1969 Die Flippers (leicht besser) zu nennen und gleichzeitig Weine nicht kleine Eva zu veröffentlichen, ein stratosphärischer Hit, der die Band durch Bierzelte und Festhallen, durch Karnevalssitzungen und Silvesterfeiern tatsächlich bis ins Jahr 2011 trug. Und dann, und zwar im Frühlingsfest der Volksmusik am 9. April 2011, wurden die Flippers aufgelöst. Ihr müßt euch das mal angucken, wie Florian Silbereisen (ca. ab 1:07) nicht ohne Ergriffenheit und mit ein ganz klein wenig Pathos die Flipperära beendet. Wenn man das nachfolgende Playback hört, ist es vielleicht auch ganz gut für alle, wenn sie in den Ruhestand gingen. Zombie Karaoke. Hört mal bis 3:30 durch. Das ist krasses Zeug.

Übrigens ist Florian Silbereisen mittlerweile und aktuell der neue Kapitän vom Traumschiff. Der Mann ist in den Achtzigern geboren. Der erste Traumschiff-Kapitän, das habe ich gerade nachgeschlagen, hat noch an der Ostfront gekämpft. Wir werden noch erleben, wie Billie Eilish Papst wird. Warum auch nicht. Sie ist irischstämmig, demzufolge sogar katholisch.

(Quelle: discogs)




Aber wir verplaudern uns. Weiter mit Platz 17: Heintje mit Scheiden tut so weh. 1970 ist natürlich Heintjezeit. Die Heintjezeit dauerte von 1968 bis 1971. Danach, so die offizielle Version, kam Heintje in den Stimmbruch. Angeblich war das erst mit 16einhalb Jahren so weit. Das finde ich erstaunlich. Ist das nicht ein bißchen spät? Hat das Management eventuell den Stimmbruch ihres Goldjungen künstlich verzögert? Mit Maoam-Bonbons? Der Manager hatte übrigens den schönen Namen Addy Klejingeld. Im Januar 1970 hat Heintje – was er noch nicht weiß – seinen Zenit so gerade haarscharf überschritten, und geradezu prophetisch : Scheiden tut so weh. Ich versuche, mir das einmal vorzustellen: wie der Heintje dieser Zeit im Tourbus zum Kleijngeld geht: Du Addy, ich hatte heute nacht meinen ersten Samenerguß. Und er so: Ach verdammt, kleiner smeerlap. Keine Ahnung, ob und wie das wohl gewesen ist. Aber eigentlich auch paradox bei Heintje. Als er dann endlich Groupies hätte haben können, dann geht es nicht mehr mit dem Singen. Ein sozusagen Alberich-artiges Schicksal, Gold oder Liebe.

Übrigens wird es nicht möglich sein, in jeder Lieferung alles haarklein durchzusprechen. Deshalb machen wir mal einen kleinen Sprung gleich zu den Top3: Auf Platz 3 Venus von Shocking Blue, das meine älteren Leser noch in der 1986-Version von Bananarama kennen. Auf Platz 2 ist das scheußliche Sugar Sugar von den Archies, die sind auch nicht besser als die Flippers.  Und neu auf Platz Nummer 1 ist unser Roy Black mit Dein schönstes Geschenk, diesem merkwürdigen Learning-English-Lied („Die Sonne- the sun, der Mond – the moon, die Sterne – the stars…“). Oh, über Roy Black werden wir bald reden, also reden müssen. Aber eine Zeile möge mottogleich über diesem Blog stehen: „Es kommt auf die Stunde an, ganz egal was du tust auf der Welt.“


Also, viel Spaß hiermit.