Donnerstag, 1. Juli 2021

Nr. 35 vom 1.7.1971 oder Man fliegt nur mit den Möwen gut

 

So. Butterfly auf der 1, und das wird auch noch einige Zeit so bleiben. Wir haben ohnehin eine ziemlich stabile Spitze, die schon seit 2 Monaten zusammenklebt. Und hier die aktuelle Hitparade auf Youtube.

Auf Platz Nr. 9 entdecken wir Neil Diamond, der uns schon vorher mal über den Weg gesungen ist. Komischer Typ, irgendwie. Natürlich war er nicht im Mindesten satisfaktionsfähig. Niemand hörte Neil Diamond. Wir wilden Jugendlichen sowieso nicht, aber auch nicht unsere Eltern. Genau, Neil Diamond war irgendwie zwischen uns und unseren Eltern, sozusagen die Musik der jüngeren Tante, die immer ein bißchen über die Stränge geschlagen hat und ein wenig zu viel mit Männern zu tun gehabt hatte, oder gar GESCHIEDEN war. Die hörte Neil Diamond. Natürlich hat der Mann eine Mörderstimme, einen extrem elastischen Bariton, erinnert ein wenig an den großartigen Scott Walker, der eigentlich auch zeitgleich unterwegs war, den wir aber leider nie in der Hitparade begrüßen werden.

Das große Problem bei Neil Diamond ist: das ist keine Rockmusik. Er hat immer ein Orchester, hört es euch mal bei I Am I Said an. Das wäre doch vielleicht gar nicht mal so schlimm, würde er diese Karamellstreicher und Zuckerholzbläser weglassen? Warum, Neil Diamond? Hier einmal ein Vergleich: He Ain't Heavy He's My Brother von Herrn Diamond, und dazu eine wirklich sehr schöne Version von den Hollies

Das ist schon sehr klebrig bei Neil Diamond, als würde er in diesem Lied eine  kleine Schwarzhaarige ansingen, dass er sie leider, leider jetzt verlassen müsse wegen der kleinen Blonden, aber nicht persönlich nehmen, er muß einfach so! 

Je länger man bei Neil Diamond reinhört, desto mehr fällt einem auf, was er alles nicht ist (Elvis, Sinatra, Scott Walker), und vielleicht ist das auch sein Problem. Einige Jahre später sang er den Soundtrack "Jonathan Livingston Seagull" ein, und diese Platte hat man öfter einmal in den Plattenschränken des gehobenen Bürgertums gesehen, Neil Diamond barfuß hockend im Sand vor Sonnenuntergang, wobei wiederum nicht klar war, ob die Platte der Tochter oder der Mutter gehörte (und wahrscheinlich ein Geschenk der jüngeren Tante war). Übrigens stand daneben auch Jesus Christ Superstar, später kamen die grüne Christopher Cross und Andreas Vollenweider dazu. 

(Quelle: Ullstein)

Jonathan Livingston Seagull ist der Soundtrack zu der Verfilmung der Möwe Jonathan von Richard Bach, und das ist jetzt etwas peinlich für mich. Ungefähr ein Dutzend Jahre später, zu Beginn der Achtziger, habe ich dieses Buch nicht nur gelesen, sondern war begeistert (ich habe es sogar zu einer Hochzeit verschenkt!). Es geht um folgendes: Die Möwe Jonathan ist anders als ihre Artgenossen, die nur fliegen um zu leben. Jonathan lebt um zu fliegen (argh). Er wird ausgestoßen, lebt als Möweneremit, stirbt, wird in einem Flugmöwennirvana wiedergeboren, um schlußendlich als Möwenprophet wieder auf die Erde zurückzukehren. Alles das hängt irgendwo zwischen Hermann Hesse und Saint-Exupery,als klebriger Existentialismus: du kannst alles werden, du kannst alles sein, wenn du es nur willst. Das ist für einen spätpubertierenden Jungen vom Rande des Ruhrgebiets natürlich hochgradig attraktiv. Man konnte sich sozusagen als begabter Möwenvogel vom Strand der Ruhr in den Sonnenuntergang abstoßen, in die hohen Lüfte aufsteigen und über Bochum, Herne und gar Schalke dahinschweben, natürlich bewundert von den Mädchen, die einem sonst mit dem Arsch nicht angeguckt hatten.

Immerhin habe ich dazu nicht Neil Diamond gehört. Übrigens kam es bei Neil Diamond noch in den Siebzigern zu einem seltsamen Ausflug in die Coolness, als er zum Abschiedskonzert von The Band, dem berühmten The Last Waltz, eingeladen wurde, da er ein guter Freund des Bandleaders war. Er singt da zwischen Joni Mitchell und Bob Dylan, was doch eine eigenwillige Zusammenstellung. Als würde Florian Silbereisen der Kapitän vom Traumschiff werden!

Später hatte ich mich dann auch zum schwarzen Existentialismus von Sartre, Camus und Kierkegaard vorgelesen: du kannst zwar alles werden oder sein, aber am Ende wirst du tot sein und deine Knochen bleichen im Sonnenuntergang. Das ist schon mal besser, und dazu Seventeen Seconds von The Cure. 

Dauerbrenner der Woche: Hey Tonight, von den Schrecklichen

Rakete der Woche: Ginny komm näher als Re-Entry

Liebling der Woche: Funny Funny von The Sweet (unexistentialistisch!)