Und hier sind sie wieder: die Top 20 aus dem Sommerberlin 2020 für das Jahr 1970.
Oh, eine
Doppelspitze! Ich bin einigermaßen sicher, das wird sehr selten vorkommen. Wie
zu befürchten war, zieht der Condor auf Platz 1 und im Flügelschatten schleicht
sich das ungleich schönere Cecilia auf Platz Nummer 2. Ich fürchte ja, es wird
mit dem Condor noch einige Wochen dauern. Seltsam auch, dass es ein Sommerhit
gewesen ist. Es ist ein ekliges Stück, aber irgendwo doch überhaupt nicht
sommerlich. Ihr kennt doch sicher die Geschichte vom Flug 571 nur zwei Jahre
später über eine Rugbymannschaft, die in den Anden abgestürzt ist. Ich habe mal
das Buch eines Überlebenden dazu gelesen. Von den 45 Passagieren und Besatzung
starben gleich 17 beim Absturz oder in der ersten Nacht. Für die anderen wurde
es rasch ungemütlich, da man nur Schokolade und etwas Wein als Proviant
dabeihatte und auf 3.800m in den Anden auch keine Spargelfelder sind. Ja, und
so haben sie sich dann gegenseitig aufgefuttert bzw. nur die Gestorbenen, die
ja alle glücklicherweise tiefgekühlt waren (ja, ihr habt jetzt alle Bilder von
der Tönnies-Schlachterei im Kopf. Dafür kann ich nichts). Insgesamt mußten sie
fast 2 ½ Monate ausharren, bis sie gerettet wurden. Angeblich wurden nur zwei
Frauen unangegessen gelassen (es starben insgesamt 29 Personen). Ja, und wo war
während dieser Zeit El Condor Pasa? Wahrscheinlich in der Fußgängerzone von
Gelsenkirchen, auf der Panflöte.
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Schauen wir
doch einmal wieder in den SPIEGEL: interessanterweise gibt es im Juni 1970 eine
Sondernummer zu „Popmusik“. Ich muß sagen, ich war wirklich außerordentlich
erstaunt nach Lektüre des achtseitigen Leitartikels. Die Autoren schreiben über
aktuelle Rockmusik in ihrem typischen SPIEGEL-Stil wie sie später über
Waldorf-Pädagogik, Hare Krishna, Atomkraft Nein Danke, Fridays for Future
geschrieben haben: leicht überheblich, etwas ironisch, aber durchaus mit
Verständnis: so sind die jungen Leute halt. Moment. Wir haben Juni 1970. Was
ist denn an Rockmusik neu? Wir sind im Jahr 8 der Beatles, die sich soeben
getrennt haben. Rock, der heiße neue Scheiß?
Dann habe ich langsam kapiert, was mit als SPIEGEL-Leser, der erst ein Dutzend Jahre später eingestiegen ist, völlig fremd war: der SPIEGEL war damals ein Blatt für alte Menschen oder junge Menschen, die sich wie alte Menschen anzogen. Sozusagen für alte weiße Männer. Für die Leser von Günter Grass. Dort die geringste Vorbildung für Popkultur zu vermuten, wäre zu recht waghalsig gewesen. Im Text wimmelt es davon, wie langhaarig, wild und drogensüchtig die Konsumenten dieser merkwürdigen „Rockmusik“ sind. Deshalb setzen sie drollig jeden Bandnamen in Anführungsstriche und versuchen den althumanistischen Lesern ein wenig von der Weirdness dieser Popmusik durch die Übersetzung von LP-Titeln zu vermitteln: „Ihrer satanischen Majestät“ und „Hof des karminroten Königs“. Ansonsten versuchen sie den anständig angezogenen Bildungslinken ein klein bißchen Schauer zu vermitteln:
Dann habe ich langsam kapiert, was mit als SPIEGEL-Leser, der erst ein Dutzend Jahre später eingestiegen ist, völlig fremd war: der SPIEGEL war damals ein Blatt für alte Menschen oder junge Menschen, die sich wie alte Menschen anzogen. Sozusagen für alte weiße Männer. Für die Leser von Günter Grass. Dort die geringste Vorbildung für Popkultur zu vermuten, wäre zu recht waghalsig gewesen. Im Text wimmelt es davon, wie langhaarig, wild und drogensüchtig die Konsumenten dieser merkwürdigen „Rockmusik“ sind. Deshalb setzen sie drollig jeden Bandnamen in Anführungsstriche und versuchen den althumanistischen Lesern ein wenig von der Weirdness dieser Popmusik durch die Übersetzung von LP-Titeln zu vermitteln: „Ihrer satanischen Majestät“ und „Hof des karminroten Königs“. Ansonsten versuchen sie den anständig angezogenen Bildungslinken ein klein bißchen Schauer zu vermitteln:
„Sie lieben das
Verrrückte, Bizarre, Groteske, und Bands wie die „Rolling Stones“ und die
„Family“, „Jefferson Airplane“ und „Grateful Dead“ animieren sie dazu.“
(SPIEGEL 25/1970)
Gerade bei den
Bands rollen einem Gegenwärtigen Tränen der Rührung über die Backen, wenn ein
Absatz später z.B. noch „Ten Years After“, „Jethro Tull“ und „Fleetwood Mac“
als heißer Scheiß zitiert werden. Das sind alles Sachen, die auf der Schwelle
zwischen Elternmusik und Großelternmusik stehen. Vielleicht ist mir erst wieder
klar geworden, wie unglaublich lange dieses 1970 doch her ist, denn man
unterliegt der Illusion, so weit könne es ja nicht zurückliegen, weil man es ja
selbst (als Fünfjähriger) noch miterlebt hat.
Für Nackte ist
natürlich auch fotografisch Platz, denn die Gammler haben nicht nur dreckige
Sachen an, sondern ziehen sie sich auch noch aus.
Sehr wenig Dreß (Quelle: SPIEGEL 25/1970) |
Es ist nämlich
so: „Fast alle Bands haben in ihrem Repertoire Beischlaf-Nummern, die mit
eindeutigen Gesten vorgetragen werden.“ Was für ein geiler Scheiß!
Und beim
gesellschaftlichen Herumerklären verwickelt sich der SPIEGEL dann auch in
seinen eigenen Widersprüchen (die man natürlich sieht), etwa wenn er über
Liverpool schwadroniert, denn dort „…fühlten sich die jungen Proletarier so
deklassiert wie die Neger. In ihrer Wut trommelten sie aggressive Negerrhythmen
und paukten sich damit aus Kellern und Gossen nach oben.“ (SPIEGEL 25/1970)
Allerdings
vergißt der SPIEGEL nicht zu erwähnen, dass die „Neger“ selbst die
„Negerrhythmen“ gar nicht mögen, „denn Amerikas Neger wollen keine Synthese mit
westlichem Tongut mehr: sie suchen in den afroamerikanischen Musizierweisen
Gospel und Soul ihr Heil.“ Das ist insofern richtig gesehen, weil keine zehn
Jahre das nächste big black thing startete: Hiphop, damals noch als Rap.
Der Artikel
schließt allerdings versöhnlich: „Mit ihren langen Haaren und ihrem
exzentrischen Dreß (sic!) plädieren die Rock-Musiker und ihre Geeflogschauft
unablässig für Toleranz, friedliches Nebeneinander und Liberalität. Wahrlich,
diese Generation taugt nicht mehr zum blinden Befehlsempfang, sie verweigert
sich jeglichem Drill.“ (SPIEGEL 25/1970)
Tatsächlich. So
ist es dann auch gekommen.
Rakete der Woche: Yellow River von
Christie
Veteran der Woche: gleich 3: Let It
Be, House of the rising Sun und Bridge
over troubled Water
Liebling der Woche: Let It Be (ist
ja auch bald weg).