Freitag, 15. Mai 2020

Nr. 10 vom 15.5.1970 oder Willy Dobbe rockt den Grand Prix





Grand Prix-Zeit! Falls es diesen Blog länger gibt, werde ich vielleicht einmal pro Jahr eine Sonderausgabe für den Grand Prix Eurovision machen. Fangen wir doch heute einfach mal an! Der Wettbewerb hieß 1970 genau so wie heute: Eurovision Song Contest. Er fand schon am 21. März in Amsterdam statt, aber es braucht offenbar einige Wochen, bis die Lieder in die Charts hineininfiziert sind. Immerhin haben wir 3 Titel in den Charts aus dem Wettbewerb. Hier die Playlist der Top 20. Aber jetzt kümmern wir uns mal um den Grand Prix.

Es gab übrigens damals genau so viel Herumbasteln am Modus, Boykotte und den ganzen üblichen Quatsch. Die nördlichen Ländern sowie Portugal und Österreich schwänzten, so dass es gerade mal 12 Teilnehmer gab. Auch der Austragungsort Amsterdam war lange kritisch gewesen, da es 1969 4 Sieger gegeben hatte und man daraufhin den Modus änderte.

Im Netz gibt es eine komplette Aufzeichnung vom ESC Fanclub Thailand (!), inklusive Eurovisionsfanfare und einer bizarren Eingangsanimation mit seltsamer Musik, dann Amsterdam-Luftbilder, alles natürlich schwarzweiß. Dann öffnen sich endlich die Tore zum Congrescentrum – und es ist so rührend, ein richtiges Orchester dort zu sehen, mit anständig angezogenen Orchestermitgliedern. Tatsächlich wurden ja alle Lieder live vom Orchester aufgeführt. Oh, würden die Veranstalter einmal den Sieger von 2006 (Finnland) Lordi Rock’n’Roll Hallelujah sich anschauen. Sie würden glauben, Außerirdische hätten die Welt erobert. Aber ok, was dachten wir damals? Außerirdische haben die Welt erobert, und sie sind sehr häßlich. Ich weiß noch genau, wie der legendäre Peter Urban damals immer schweigsamer wurde, als sich die Punktevergabe zu den Außerirdischen neigte.

Zurück in unser schönes Jahr 1970. Die Eingangsmoderation wird von einer riesig frisierten und sensationell aussehenden Holländerin gehalten, die einen Namen hat, der eigentlich für eine riesig frisierte und toll aussehende Holländerin etwas ungewöhnlich ist: Willy Dobbe. Ich meine, das ist doch eher ein Name für einen Eisenwarenhändler oder so ähnlich: Willy Dobbe Stahlwaren KG. Allerdings dauert die Eingangsmoderation nur genau 24 Sekunden und dann geht es schon los. Die startenden Holländerinnen bestehen praktisch nur aus Haaren und haben ein ausgesucht scheußliches Lied, und zack, weiter, Schweiz (langweilig), zack, Einspiel, Italien (kann nicht singen). Dann aber: Slowenien, ein junges Mädchen namens Eva Srsen aus Laibach in einem pfirsichfarbenen Kleid, die total süß ist, und slowenisch so singt, als wäre es schwedisch. aber nur den vorletzten Platz machte. Schiebung! Zack, Einspiel, Belgien; Frankreich etc. 

Eva Srsen: toll, aber chancenlos (Quelle: Eurovision Fanclub Thailand/Eurovision Song Contest)

Dann der haushohe Favorit Mary Hopkin. Sie macht eigentlich alles richtig mit Knock Knock und ihrem Karamellsopran, aber Those Were The Days ist wirklich sehr viel toller. Als Kind hatte ich übrigens davon die Single. Das eigentlich Verblüffende ist die Plattenfirma: Mary Hopkin gehört zu den ganz wenigen Acts der Plattenfirma Apple, die nicht Beatles waren. Was immer wieder etwas verwirrend ist, wenn man sich das Label anschaut, zumal wir ja auch noch Let It Be in den Charts haben. 


Zweimal Apple, kein Smartphone

Praktisch alle männlichen Interpreten haben einen Anzug mit Fliege, alle Frauen ein buntes Endsechziger-Kleid. Die Holländer machten mit Drei-Frauen-mit-viel-Haaren eigentlich die Ausnahme. Dann kommt Spanien, mit dem jungen Julio Iglesias in einem freibadblauen Anzug mit freibadblauer Krawatte. Man merkt schon, dass er Talent und Stimme hat, aber ihm fehlt noch völlig das Coole-Sau-Mäßige des mittleren Julia Iglesias. Der Zwang, in einer Landessprache des Landes zu singen, führte übrigens bei 5 von 12 Interpreten zu Französisch, und nur 2mal zu Englisch.

Ja, und dann kommt Katja Ebstein, die tatsächlich dreimal teilgenommen hat und mit zwei dritten und einem zweiten Platz mehr als respektabel abgeschnitten hat, aber eben nie gewonnen hat. Übrigens war sie (da hieß sie noch Karin Witkiewicz) eine Freundin von Benno Ohnesorg, der kaum drei Jahre vorher erschossen worden ist. Katja Ebstein ist so ähnlich angezogen wie Julio Iglesias. Und Wunder gibt es immer wieder ist ein echter Killer-Track, leidet aber an der souligen, etwas leierigen Strophe. So etwas ist einfach zu kompliziert für einen ESC. Und anschließend kommt mit Dana ein Niedlichkeitstornado aus Dublin mit All Kinds Of Everything, mit einer Vanessa Paradis-Zahnlücke. Bis auf Katja Ebstein waren fast alle Frauen vor allem niedlich, seltsam eigentlich, so kurz nach 1968. So, jetzt haben alle gesungen, und es sind nicht einmal 50 Minuten vergangen. Die merkwürdige Studiodeko aus Bögen und Kugeln wird verändert, Tanzschulenauftritt.

Eigentlich kein Superfavorit, ich fand am besten Jugoslawien, England, Irland und vielleicht noch Monaco. Mal sehen, was passiert.

Mal ehrlich: hättet ihr gedacht, dass diese Dame „Willy Dobbe“ heißt? (Quelle: Eurovision Fanclub Thailand/Eurovision Song Contest)
Dann kommt endlich wieder Willy Dobbe mit ihrer schönen Frisur. Jetzt weiß ich auch, woran sie mich erinnert: Dusty Springfield in der Dusty-in-Memphis-Zeit. Die ziemlich lausige youtube-Kopie des ESC-Fanclub Thailand (!) wird jetzt farbig und Willy macht das mit Royal-Unie doze points wirklich ganz fabelhaft. Außerdem hat sie ein Kleid mit silbernen Kugeln, was beim Umarmen gewiß Druckstellen verursacht hat. Große silberne Kugeln hingegen waren der zentrale Bestandteil der Studiodekoration. Zur Punktevergabe: Jedes Land darf 10 Punkte verteilen, und zwar irgendwie, weil in jedem Land 10 Leute in der Jury sitzen (also halb Luxemburg). Am Anfang merkt man schnell, dass es gegen Mary Hopkin und für Dana läuft. Dann aber wählt Jugoslawien, das Irland verschmäht, aber vier Punkte an GB gibt: 11:11. Dann Belgien, die Monaco eine Stimme geben, aber neun für Irland. Leichte Aufruhr im Publikum. Übrigens tragen fast alle Männer im Publikum einen Anzug mit Krawatte, die Frauen in Abendkleidern. Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns einen Gefallen getan haben, praktisch das ganze Leben zu entformalisieren. Ein sehr hoher Anteil von Menschen sieht praktisch immer und überall gleich aus. Und wenn man ehrlich ist: Männer in einem Anzug und Frauen in einem Abendkleid sehen fast immer mindestens akzeptabel aus, - deshalb hat man die Sachen doch erfunden! Während viele in der internationalen Uniform der Formlosigkeit, nämlich Jeans und T-Shirt, ganz einfach scheiße aussehen. Es nützt ja nichts, wenn die Schönen darin schön sind, denn die sind in allem schön.


So sehen Sieger aus (Dana mit vier Kugeln)


Bemerkenswert dann die Engländer: sie geben der tollen Slowenin zum erstenmal Punkte, und das gleich vier Stück, aber auch Irland 4. GB schafft es einfach nicht, den Vorsprung zu verringern. Nach Monaco wählt Deutschland als elftes Land: es steht jetzt Irland 32 zu GB 23. Wenn jetzt Irland 2 Punkte nicht nach GB vergibt, hat Dana es geschafft. Komischerweise kapieren sie es im Publikum gar nicht, als sie 3 Punkte nach Frankreich geben. Irland gewinnt 32 zu 26.

Dana Zahnlücke hat gewonnen! Sie darf das Lied gleich nochmal, jetzt etwas lockerer und gelassener, dann Abspann, und vorbei nach gerade mal 1h 14 Minuten. Toll!
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In unserer Hitparade sind aus Amsterdam eingetroffen: natürlich Katja Ebstein, natürlich Dana, und dann noch die unglückliche Mary Hopkin.

Rakete der Woche: All Kinds Of Everything von Dana
Veteran der Woche: noch immer  Mademoiselle Ninette auf der 2 mit 8 Wochen.
Liebling der Woche: achja, dann ist es eben Dana.