Donnerstag, 30. April 2020

Nr. 9 vom 1. Mai 1970 oder Hurra für Lizzie Bravo




Ich habe gerade die Rote aufgelegt. Nicht als Vinyl, sondern über einen Spotify Stream. Allerdings genau wie damals in Mono, allerdings nicht mehr über einen kleinen Plattenspielerverstärker, sondern über eine kleine Alexa.

Und hier der youtube-Link zu der Hitparade.

Beatles. Damit hat alles angefangen. Eigentlich bin ich ja mit Jahrgang 1965 deutlich zu jung für die Beatles, wenn man seine wichtige Musik irgendwann zwischen 12 und 15 hört. Das waren dann die Jahre 1977-1980, und Ihr denkt jetzt sicher: oh super, die Zeit der Sex Pistols, Ramones, Joy Division. Nein, denn wir waren umgeben von Smokie, Boney M, Village People und Bee Gees. Die Beatles waren damals nicht einmal so kanonisch wie heute. Es war ein bißchen alter Scheiß, für den sich gerade niemand mehr so interessierte. Die berühmten Sampler 1962-1966 („die Rote“) und 1967-1970 („die Blaue“) waren fünf Jahre vorher erschienen und damit waren die Beatles für die Welt erst einmal erledigt.



Nicht für uns - wir hörten diesen alten Scheiß. Es begann mit drei Singles, die von Odeon neu aufgelegt waren, Please Please Me, Can’t Buy Me Love und Help. Dann kam sehr schnell die Rote, und damit hatten wir schon 29 Lieder. Wir waren am Anfang sogar zu viert, aber schließlich der harte Kern aus Michael, Christoph und ich. Michaels Eltern hatten den Soundtrack von Help: weitere 10 Lieder für uns, eigentlich aber nur neun, da die Platte am Rand abgebrochen war, so dass Act Naturally auf Seite B zu Dreiviertel fehlte (warum das auf der Seite A nichts machte, weiß ein Beatles-Auskenner natürlich). Die Blaue kam zu uns. Wir kauften einem Klassenkameraden die Weiße ab, also zu dritt ein Doppelalbum, was bis heute zu komplizierten Diskussionen führt, wem welche Seite gehört (und welches Drittel der vierten Seite). Wir kauften das orangene Beatles-Buch von Rombeck/Neumann („Ihre Karriere, ihre Musik, ihre Erfolge“). Wir begannen uns, daraus abzufragen: Wie hießen die beiden Mädchen, die John spontan als Hintergrundsängerinnen für Across The Universe ins einlud, als sie vor dem Studio nach Autogrammen herumlungerten? Es waren Gayleen Pease und Lizzie Bravo! Sehr viel später habe ich herausgefunden, dass es sogar ein Foto dieser denkwürdigen Begegnung gibt!

Links Lennon, in der Mitte irgendwer, rechts Lizzie Bravo (Quelle: beatlessource.com)

Und irgendwann 1979 waren wir dann komplett, bzw. so komplett man 1979 sein kann (was ungefähr 217 Lieder sind, übrigens eine erstaunlich komplizierte Frage, wie viele Beatles-Lieder kanonisch sind). Wir machten Hitparaden mit Bewertungen von 1 bis 10, mit einer zweiten Liga und Auf- und Absteiger. Get Back war ein Hitparadenfavorit, weil das alle drei nicht nur gut, sondern alle drei super fanden. Das war keinesfalls immer so. Christoph bevorzugte die Sachen von Lennon (I’m Only Sleeping) und ich hatte einen Hang zu Paul-Sachen (Martha My Dear). Zusammen mit Michael hatten wir dann aber einen ausreichend breiten Konsens. 



Neben den bekannten RIESIGEN BEATLES SONGS (zu denen wir Let It Be übrigens nicht so zählten) hatten wir auch den Sinn für das großartige Nebenwerk, etwa Rain (die B-Seite von Lady Madonna) oder Hey Bulldog (auf Yellow Submarine). Während die anderen in der Klasse lieber zu YMCA und Night Fever herumtanzten und mit Kuli SMOKIE auf ihre Jeansjacken schrieben, dachten wir darüber nach, ob Revolver besser ist (Christoph) oder Sgt. Pepper (ich) oder beides (Michael). Die Beatles waren uncoole Musik, weil sie ja schon so alt waren. Das wäre übrigens zeitlich gerechnet ungefähr so, als würde man heute Arcade Fire, Adele oder Kanye West als uralten Quatsch abtun. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: wir fühlten uns nicht schlauer, besser, abcheckerischer, musikalischer als die anderen. Wir wollten halt nicht nach Belfast (Boney M.), Hiroshima (Wishful Thinking), Laredo (Baccara) oder Babylon (nochmal Boney M.), ganz einfach.

An den Beatles konnte man auch lernen, wie Lieder, die man zuerst höchstens mittelmäßig fand, im mehrmaligen Hören aufblühten. So wie Strawberry Fields Forever, ein Lennon-Lied, das sich zunächst etwas leierig anhört, zumal es auch noch ziemlich vertrackt komponiert und arrangiert ist. Und dann hat man es auf einmal kapiert. Noch heute, mehr als 40 Jahre später, halte ich es für eines der größten Popsongs aller Zeiten. Es ist eines der Lieder, die einem niemals verlassen wird. Strawberry Fields Forever, eben.

Merkwürdig war allerdings: an dem Tag, an dem wir komplett waren, da ging es eigentlich abwärts, ohne dass wir das in diesem Moment ahnten. Wir hatten aber festgestllt, dass es neben dem alten Scheiß von den Beatles auch noch anderen anderen alten guten Scheiß gab: Deep Purple, Pink Floyd, Mike Oldfield, Genesis undsoweiter, den ganzen Kanon nach hinten, und den ganzen Kanon nach vorne. 

Noch kurz zu Let It Be: das Lied war eigentlich schon Bestandteil des verunglückten Get-Back-Projekts im Jahr zuvor. Damals wollten die Beatles wieder zurück zu ihrer jungen Unbeschwertheit sieben Jahre zuvor und hatten sogar ein Retro-LP-Cover entworfen, das leider nie zum Zuge gekommen ist. Die halbfertigen Reste wurden dann für die LP Let It Be aufgearbeitet und dann kurz vor der Trennung veröffentlicht.

Eine gute Idee, die nicht umgsetzt wurde

Christoph, Michael und ich haben übrigens immer noch Kontakt. Letztes Jahr haben wir übrigens wieder mal eine Hitparade gemacht. Get Back hat gewonnen.

Rakete der Woche: I-O-I-O von den Bee Gees von Null auf Zehn
Veteran der Woche: Mademoiselle Ninette auf der 1 mit 7 Wochen.
Liebling der Woche: Let It Be auf 2