Donnerstag, 18. Februar 2021

Nr. 26 vom 18. 2. 1971 oder Die Fischbrötchen tanzen wir quitt

 

So, das war jetzt aber eine arg lange Pause zu Weihnachten, aber erst war ja Silvester, und dann mußte ich meinen Weihnachtsbaum abbauen, dann hatte ich keine Zeit, und dann war es auch schon Februar.

Aber unverzagt in eine neue Ausgabe der Top 20. Hier die youtube-Playlist. Und auf Platz Nr. 1 (und das schon seit 7 Wochen) ist George Harrison mit My Sweet Lord. Ich kann mich sogar erinnern, als das ein Hit war (ich war fünf Jahre alt), weil es ein unglaublich transgalaktisch riesiger Hit war (was wir auch noch sehen werden - paß mal auf, El Condor Pasa). Ich weiß auch noch, was ich verstanden habe: es handelt sich um ein englisches Lied (da ich den Text nicht verstehen konnte), es sang jemand Hallelujah und es ging um einen Lord. Allerdings weiß ich nicht mehr, was ich mir daraus zusammengereimt habe: ein englischer Lord, der in eine Kirche geht? Auch die Verbindung zu den Beatles, die ich durch She Loves You und Hey Jude wenigstens unterbewußt kannte, habe ich nicht gezogen. Wahrscheinlich habe ich mir im Februar 1971 überhaupt nichts gedacht. Ich wußte, in einigen Monaten endlich in die Schule gehen zu können. Ich freute mich, denn dort würde ich endlich lesen lernen.

Viel später, Weihnachten 1979 bekam ich dann die zu My Sweet Lord zugehörige LP All Things Must Pass. Es war ein typisches Weihnachtsgeschenk, denn es war eine Dreifach-LP im Pappkarton, die mehr als 30 Mark kostete. Und man ahnte auch schon, dass sie nicht so ganz super-duper sein würde. George war auch schon bei den Beatles ein unsicherer Kantonist gewesen, ich sag nur Within You Without You oder die scheußlichen Old Brown Shoe oder Savoy Truffle. Als alternative Dreifach-LP (es ist ja nur einmal im Jahr Weihnachten) wäre noch Wings Over America in Betracht gekommen, aber drei LPs nur mit Paul McCartney sind ja auch kein Spaß. 

Und My Sweet Lord fand ich da auch nicht so überragend. Harrison hat es übrigens auch gestohlen, hier das Original He's So Fine von den Chiffons. Komponiert hat es ein gewisser Ronnie Mack als She's So Fine für eine Doo-Wop Band namens Jimmy River & The Tops; als es dann die Mädchen-Chiffons machen wollten, wurde es kurzerhand im Februar 1963  He's So Fine umgemodelt. Am Klavier sitzt übrigens die deutlich bekanntere Carole King. Praktisch zeitgleich übrigens nimmt eine gar nicht unbekannte Liverpooler Band den Titel "Chains" von Carole King für ihre erste LP auf.

Die Mädchen singen übrigens Do-lang-do-lang-do-lang im Hintergrund, was immer das bedeuten mag.Und auch Ronnie Mack hat zwar noch den Erfolg von He's So Fine mitbekommen, aber nicht mehr My Sweet Lord, weil er schon November 1963 durch Lymphdrüsenkrebs zu meinen süßen Herrn gerufen wurde.

--

Roy Black, Für Dich allein (Du kannst nicht alles haben). Eines der schlimmsten Beispiele des kleinen Sub-Genre "Kinder & Star-Schlager", das gerade Roy Black mehrfach bespielte. Schaut euch mal das Video an! 

Eine kleine Indianer-Kinderbrigade kommt hinter den Bäumen hervorgesprungen, legt etwas Reisig ab, den sie innerhalb von Sekunden lichterloh entzünden, dann kommt der Mann mit dem dunklen Anzug hinter dem Baum hervor und singt, dass das Leben nicht nur Spasz ist, sondern die Rosen auch Dornen haben. Boah. Das ging heute auch alles nicht mehr. 

Mir fiel jetzt folgende Zeile aus der zweiten Strophe auf:

Zu jeder Stunde Würstchen und 'ne Tüte mit Pommes frites, lauter Kaugummi am Sofa und die Schule sind wir quitt.

Ok, Würstchen, ok, Pommes, aber warum denn Kaugummi "am" Sofa? Und "die Schule sind wir quitt" ist ja grammatikalisch doch heikel. Man ist ja mit jemanden quitt, und nicht so einfach so quitt. Obwohl das durchaus neue Möglichkeiten bietet, um auszudrücken, dass man durch ist mit einer Sache, Ende-Gelände, keinen Bock mehr. Corona bin ich quitt.  Ihr ahnt es: das Video ist auch einem Film, und zwar "Wer zuletzt lacht, lacht am besten". Und natürlich von Harald Reinl (der Winnetou-Reinl, der übrigens, wie ich gerade interessiert lese, Regie bei Leni Riefenstahl in "Tiefland" gelernt hat. Theo Lingen, Peter Weck, Uschi Glas spielen auch mit, und - Licht aus, Spot an- Ilja Richter aus Berlin. Mit Herrn Richter werden wir jetzt gelegentlich zu tun bekommen, da man sehr viele Folgen von DISCO bei youtube eingestellt hat, was uns noch sehr viel Freude bereiten wird. Es handelt sich um die allererste Sendung vom 13. Februar 1971, und zwar hier.


Disco 71 (Quelle: ZDF)


Man merkt es der Sendung an, dass sie noch ein wenig am Üben sind. Generell ist das Konzept so, dass es drei Bühnen gibt: die eine Bühne mit angeblichen Steuerungsknöpfen, Dashboards und Monitoren für Ilja Richter und dann zwei Bühnen, auf denen abwechselnd die Bands und Künstler auftreten. Damit das nicht zu fade wird, hat man (James-Last-mäßig, nur eben jünger) nicht mehr als zwei Dutzend junge Menschen eingeladen, die Fans spielen oder sind, und zu den Musiknummern dann tanzen. Ich habe DISCO regelmäßig, aber wenig interessiert geguckt (wie das Erwachsenen-Pendant) HITPARADE, und so bin ich mit dem DISCO-Tanzstil großgeworden. Als ich dann 1975 auf einer Klassenfete erstmals in das Tanz-Business hineingeschmissen wurde (anders kann man es nicht sagen), habe ich dann die Tanzbewegungen nachgeahmt, die ich in einigen Jahren DISCO gesehen habe. Also im Prinzip die Arme anwinkeln und dabei die Ellenbogen an den Bauch pressen, den gesamten Oberkörper nach links und rechts drehen und die Knie dazu sacht abwinkeln und sich dabei in mehreren Stopps um sich selbst drehen, langsamer als der Mond um die Erde. Das sieht so aus, als würde man auf der Fehmarn-Fähre zwei Teller mit Fischbrötchen bei Windstärke 8 durch die Schiffskantine tragen. Die Einspieler aus Top Of The Pops zeigen übrigens, dass man in UK etwas weiter war, z.B. mit "Hände in die Luft schmeißen" und "Oberkörper vor und zurück biegen" und es gibt auch einmal eine kühne Drehung. Das hatten wir echt nicht drauf, weil wir ja alle das nur aus DISCO wußten und wiederum einige wenige auserwählte Fischbrötchentänzer dann live in die Sendung eingeladen wurden, womit sich der DISCO-Tanzstil ad infinitum weiter vererbte und wahrscheinlich auch in der Hüpf-DNA bei Rave im Berghain nachzuweisen wäre. 

Bemerkenswert übrigens der Auftritt von Lulu (16:27). Boah, Lulu rockt aber den Laden so
etwas von! Da können sich die Herrschaften von DISCO aber eine Scheibe von
abschneiden. Man würde ihr glatt zutrauen, sich die Klamotten vom Leib zu
reißen und die Perücke ins Publikum zu schmeißen. Wie schade, dass sie nicht in
der Hitparade ist! 

DISCO und Hitparade sind sozusagen lose gekoppelt, da es offensichtlich so war, dass DISCO-Airplay die Platzierung pusht. Das werden wir einmal im Auge behalten. Der diesmalige DISCO-Faktor liegt bei 3: Kinks, Dave Edmunds und Christie. Während die Kinks aus Top Of The Pops zugespielt werden, sind Dave Edmunds und Christie live zugegen. Sehr cooler Auftritt von Herrn Edmunds, finde ich (22:22). Übrigens sind links im Hintergrund zwei Mädchen zu sehen, die praktisch bei jedem Clip im Bild sind. Wir werden uns das merken, Mädchen im gelben Pulli, für die nächsten Sendungen! - Oh, ich sehe gerade, dass man Herrn Edmunds gerade jetzt wegen Urheberrecht rausgeschnitten hat, das ist sehr schade, weil er wirklich eine coole Sau ist. 

Ilja Richter hat wirklich eine bemerkenswerte Karriere hingelegt. Er wurde schon als Kind für Hörfunk und Theater eingesetzt und hatte schon 1967 eine Serienauftritt in Till, der Junge von nebenan. Dort war er allerdings nicht Till, sondern "Lackaffe Albert". Es ist merkwürdig mit dem Ilja-Richter-Jungsein in diesen 68er-Jahren: Ilja Richter ist zwar jung, aber er ist ein alter Junger (oder junger Alter). Das eigentliche Jungsein war damals ja noch sehr jung: vorher haben die Teenager ausgesehen wie junge
Erwachsene, und nichts war den Jungs lieber, als schnellstmöglich mit Hut und Anzug herumzurennen, um in den Augen von Männern als satisfaktionsfähig zu gelten. Das änderte sich erst in den Endsechzigern und all diesen Gammlern oder noch schlimmeren. Ilja Richter hingegen war ein bißchen frech, aber eindeutig auf der Seite der Erwachsenen (später in DISCO mit Anzug und Fliege). Ilja Richter spielt den Erwachsenen vor, wie Jugendliche angeblich so sind, also er ist weniger ein Jugendlicher als vielmehr ein Jugendlichendarsteller. 

Zehn Jahre später hat Thomas Gottschalk diese Rolle bekommen, der übrigens genau so alt wie Ilja Richter ist. Ebenso wie Susanne Albrecht und Christian Klar. Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin, womöglich Jugendliche im Sinne einer damaligen Gegenwart, sind hingegen 7-10 Jahre älter. 

Dauerbrenner: A Song Of Joy mit 29 Wochen
Rakete: Immigrant Song + 10
Liebling: Für dich allein!