Freitag, 30. Oktober 2020

Nr. 21 vom 1.11.1970 oder Vielleicht gibt es irgendwo einen Sinn

 


So, hier einmal wieder die aktuellen Charts vor 50 Jahren in der youtube-Playlist.

Relativ weit unten in der zweiten Woche finden wir auf der 17 das fantastische „War“ von Edwin Starr. Natürlich die ewige und ewig richtige Zeile „War, what is it good for – absolutely nothing!“ Was für eine erste Minute! Das knallige Bläserriff, der Call&Response, das ist wirklich ein Schmuckstück. Die nach wie vor unterschätzten Frankie Goes To Hollywood (für mich ein bißchen die Sex Pistols mit Haargel) haben auf ihrer fantastischen Welcome To The Pleasuredome ein wirklich prima Cover abgeliefert, hier. 

Was ich gar nicht wußte: War stammt ursprünglich von den Temptations, womit diese neben Papa Was A Rolling Stone von 1972 noch eine Großtat komponierten.

Was auch noch auffällt: wie sehr der eiserne Besen der Neuerscheinungen durch unsere Hitparade fegt und klar ist ja: jede Neuerscheinung ist der Tod eines anderen Liedes. Durch diese massive Flutung fällt das Hitparadenalter auf durchschnittliche 3,45 Wochen; ich bin einmal gespannt, wie sich das weiter entwickelt, nachdem im Frühjahr und Sommer die durchschnittliche Zeit noch geringer war.

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Auf Platz 10 finden wir erstmals Daliah Lavi, die im Video auf einem Bahnhof herumhängt.

Daliah Lavis Texte sind deutlich über dem Mary-Roos-Michael-Holm-Durchschnitt, und dafür ist ihre deutsche Textdichterin mitverantwortlich, eine gewisse Miriam Frances. Sie textete auch das berühmte „Wer hat mein Lied so zerstört“ (im nächsten Jahr!)

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Frances schrieb auch den Text zu dem famosen Die Zeit macht nur vor dem Teufel halt von Barry Ryan, das uns ungefähr auch in einem Jahr ereilen wird:

Die Zeit, die trennt nicht nur für immer Tanz und Tänzer, die Zeit, die trennt auch jeden Sänger und sein Lied.

Außerdem im Jahr 1975 das unglaubliche Sechzig Jahre und kein bißchen weise .

Das ist Frau Frances, Textexpertin

Bemerkenswert ist bei den Frances-Texten, dass sie immer Formulierungen oder Zeilen einbaut, die auf eine sympathische Art wunderlich sind. Wie ein Brockhaus-Lexikon zwischen Konsalik-Romanen. Bei den Sechzig-Jahre-und-nicht-weise stolperte ich schon als 10jähriger über die seltsame Formulierung: „Aus gehabtem Schaden nicht gelernt“

Und Daliah Lavi singt diese Woche auf dem Bahnsteig: „Vielleicht gibt es irgendwo einen Sinn, und irgendwer weiß den Weg dorthin.“ Das ist in der Tat erwägenswert.
Sie textete auch für Udo Jürgens, zum Beispiel: „Mein Gruß an die verlorene Kindheit“, in dem sie darüber spekuliert, ob Gott deshalb unerkennbar ist, weil er eventuell etwas angestellt hat. Das ist immerhin eine prüfenswerte Hypothese.

Miriam Frances hat es 1974 tatsächlich auch mal selber probiert, aus dem Hintergrund ins Scheinwerferlicht zu treten. Und zwar ausgerechnet in Am Laufenden Band von Rudi Carrell, in der allerersten Sendung. Da Carrell noch keine Top-Acts bekommen konnte, erklärte er schlichtweg, am liebsten neue, unverbrauchte Talente wie eben Miriam Frances fördern zu wollen (später ließ er Abba auftreten).

Der Ausschnitt ist etwas zwiespältig, ein Deutschlehrerinnentext, und dazu noch mit dem heute muffig riechenden Topos des Wie-Männer-so-sind, das Johanna von Koczian zu einsamer Blüte in Das bisschen Haushalt bringen wird (hier, tatsächlich mit Helmut Schmidt, allerdings erst sieben Jahre später). Alles das sieht heute aus und klingt nach Paläozoikum, aber beachtet einmal, dass der DFB vor haargenau 50 Jahren, zum Zeitpunkt unserer Charts, das "Verbot" von Frauenfussball aufgehoben hat. 
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Auf der 11 frisch eingestiegen ist The Witch von den Rattles. Ich bin kein besonderer Rattles-Fan, sie hatten eine unübersichtliche Anzahl kleinster Hits in einer unübersichtlichen Anzahl Jahrzehnten, und sie hatten  – The Witch, einen zumindest mittelgroßen internationalen Hit. Erheblichen Anteil hat der wunderbare Gesang von Edna Bejarano. Schaut euch mal das Video an: Herbstwald, Kunstnebel, eine unglaublich hippiehafte Band. Zwischendurch hampeln sie herum, lesen und zerpflücken eine Zeitung und trampeln darauf herum, weil ihnen nichts besseres einfällt.

Und: Edna Bejanaro ist die Tochter von Esther Löwy, eine der letzten Überlebenden des Mädchenorchester von Auschwitz, geboren 1924. Gute Gesundheit, Esther Béjarano!